Minkowski.Bach.Johannes-Passion

Jede Jahreszeit hat ihre Vorzüge. Den Frühling, das helle Blühen und vielgrüne Werden in allen Ecken, liebt das Herz wahrscheinlich am meisten, zumindest kommt es ihm so vor, wenn er wieder da ist. Dass die Christenheit ihr Superding gerade in diese Jahreszeit verlegt hat, scheint kein Zufall . Sie hat den Termin wie so vieles andere uns frühlingsfrohen Heiden geklaut.

Daran musste ich denken beim Hören von Marc Minkowskis Neuaufnahme der Bachschen „Johannes-Passion“. Sie wurde 1724 uraufgeführt. Bach starb 1750. Wir wissen nicht, ob er gespürt hat, wie die tausendjährige Alleinherrschaft des abendländischen Christentums während des 18. Jahrhunderts zu erodieren begann. Wir kennen nur das Wesen, das bis heute um Bachs Religiosität gemacht wird, so als hätte Gott selbst ihm beim Komponieren die Hand geführt. Die Welt galt als Schöpfung. Bis Kepler, Galilei, Kopernikus sie zu entzaubern begannen und Kant, geboren ein Jahr bevor Bach nach Leipzig ging, die Sache dingfest machte. Bach hatte so selbstverständlich einen Glauben wie er Arme und Beine hatte. Der Glaube war tatsächlich, was der Neoliberalismus heute sich nur zu sein wünscht: alternativlos.

Am Anfang ist Christus auf dem Kreuzweg nach Golgatha. Das Böse hat triumphiert. Der Himmel ist schwarz, so schlecht ist die Welt. Die Holzbläser gellen in Dissonanzen, das Orchester ein Höllenstrudel aufgebrachter Giftschäume. Aber in der Musik stimmt alles mit allem zusammen; Gottes Ordnung als die von Bach unendlich umsichtig organisierte Abfolge rhythmisch-harmonisch abgestimmter Linien, behält noch im katastrophischen Chaos die Oberhand. Gott zu loben, die Hölle zu verdammen, war Mainstream. Die Hölle Welt zu zeigen, dagegen recht gewagt. Die Scheußlichkeit von Angst und Qual konnten als scheußliche Musik gelten; die Schilderung des Zustands der Welt missverstanden werden als Kritik an deren Schöpfer.

So wie Minkowski diesen Anfang musiziert, hört man die Not, sie krallt sich im dreifachen „Herr!“ an den Himmel. Der Franzose könnte die Johannes Passion nicht derart opernhaft anlegen, elastisch und impulsgeladen, in straffen, flüssigen Tempi und kräftigen Farben – wenn in Bachs Passionen, er schrieb nie eine Oper, das Drama nicht überall einkomponiert wäre. Dem kommt der mit acht Sängern solistisch besetzte Chor entgegen, von Bach selbst (aus Kostengründen) so gehandhabt, von Joshua Rifkin und Andrew Parrott in den 1990er Jahren aufgegriffen und heute, schon wegen der besseren Textverständlichkeit, von einer wachsenden Dirigentenzahl wieder bevorzugt. Auch das Cembalo, es verleiht dem (Kammer-)Orchesterklang einen silbrigen Glanz, gehörte zu Bachs Originalinstrumentierung und fiel meist einer verbreiteten Neigung zum Opfer, Orchester und Chöre – zur Ehre Gottes – möglichst groß zu besetzen. Zusammen mit der Orgel vergrößert ein Kontrafagott das Bassvolumen. Minkowski betont im Eingangschor die Eins im Vierertakt, sein Bach pulst und „swingt“, ein heutiges Ohr nimmt erstaunt wahr: das düstere Inferno, es klingt kostbar, ja köstlich!

In der klaren Diktion, der einfühlsamen Virtuosität der Solisten in den Ariosi, Arien und Rezitativen entwickelt sich der spannungsgeladene Fluss einer erstaunlich modern klingenden musikalischen Epik. Die Turbachöre voll grell realistischer Kontrapunktik, eigentlich die Sensation der Johannes Passion, illustrieren die Erzählung wie exzentrisch aufgeladene TV-Einspieler. Im Kontrast dazu, wie tröstliche Inseln der Ruhe in einer von inneren und äußeren Kämpfen zerfurchten Handlung, die Choräle.

Die uralte Geschichte, die Bach – meint man heute – fünf Mal vertont hat, handelt davon, dass da ein Vater sein Kind opfert; dem Abraham hatte er es schon einmal befohlen, so etwas scheint “gottgewollt”. Aber kein Gottvater und kein Menschenvater sollte so etwas tun. Nichts rechtfertigt es. Es sollte verboten werden, weltweit.  So sollte die Osterbotschaft lauten. Und so könnte man Bach hören, besonders jetzt, da der Opferbefehl wieder so schrecklich hoch im Kurs steht.  Junge Welt, April 2017

S. Bach: Johannes-Passion BWV 245 – Lothar Odinius/Christian Immler/Ditte Andersen/Lenneke Ruiten/Delphine Galou/David Hansen/Colin Balzer/Valerio Contaldo/Felix Speer/ Les Musiciens du Louvre / Marc Minkowski (Erato / Warner Classics)

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