Currentzis.Mozart.Cosi

Das Jahr vor der französischen Revolution. Mozart beginnt mit seinen berühmten Bettelbriefen an den Logenbruder Puchberg, Hauptindiz für die Legende vom vergessenen, drei Jahre später im Massengrab verlorengegangenen Mozart.

Aus freilich ganz unlegendären Gründen kommt zu Mozarts auf eigene Rechnung veranstalteten Konzerten 1788 niemand mehr: Österreich liegt im Krieg mit  der Türkei. Dem Auftraggeber von “Cosi fan tutte” geht es schlecht. Kaiser Josef II. ist ein – wenn auch despotischer – Anhänger der Aufklärung,  Aufklärung und Krieg vertragen sich nicht. Er ist ein kranker geschlagener Mann, als man ihm das Werk vorspielt. Die ironisch operettenhafte Hintergrundkulisse eines erfundenen Krieges in dieser Mozart-Oper, ja ihre ganze aufgeklärt-frivole Philosophie, wird er kaum spaßig gefunden haben.

“Cosi fan tutte” ist die letzte der drei Arbeiten Mozarts mit seinem kongenialen Librettisten Lorenzo da Ponte. Anders als alle anderen soll dieses Werk auf einer „wahren“ Geschichte der damaligen Gegenwart basieren. In Teodor Currentzis’ Neuaufnahme, produziert im Herbst 2013 bei 35 Grad minus im aktuellen Kraftzentrum der internationalen Opernwelt, dem tausend Kilometer östlich von Moskau gelegenen Perm, ist denn auch keine Spur mehr von rokokohafter Tändelei.

Der inzwischen 40jährige griechische Dirigent gilt als der große „Verweigerer“ des aktuellen Musiktheaters. Er ist – wie Mahler, Toscanini, Harnoncourt – in Wahrheit ein Neubegründer, einer, der bislang dem Weltopernmainstream aus dem Weg geht; er will ungestört seinem Ziel näher kommen: Klassische Musik soll wieder so aktuell, so interessant, so packend klingen, wie Mozart sie gemeint hat.

Ich war Ende Oktober 2014 in Perm am Westrand Sibiriens, habe Currentzis’ MusicAeterna erlebt. Unfassbar präzise das Zusammenspiel der durchweg russischen Streicher, hochaufgeladen mit rhythmischer Energie, idealistischem Engagement und einer Durchschlagskraft, die wahrscheinlich nur einer hochqualifizierten Streichergruppe mit einem Durchschnittsalter von schätzungsweise 25 Jahren gegeben ist.

Currentzis nutzt aktuellste Technik.  Der Klang der alten Instrumente bekommt unter seinen Händen schier körperliche Wirklichkeit und eine Präsenz, als höre man wie unter einem Vergrößerungsglas jedes Lachfältchen im Gesicht dieser Musik.

Für die Sänger im P. I. Tschaikowsky Staatsoper und Ballett Theater Perm ist Vibrato eine rare Prise. Damit kommt in den Ensembles die einzigartig polyphone Stimmführung Mozarts voll zur Geltung. Dem Arioso fehlt es bei Currentzis nicht nur an nichts, die Stimme erfindet sich hier neu: Im Auftrittsduett „Oh, guarda, sorella“ etwa geben nicht zwei verkleidete Primadonnen ihre Prachtstimmen zum Besten – stattdessen amüsiert uns die echtnette Terzen-Banalität zweier Oberschichtherzchen. Currentzis will keine „großen“, er will wirkliche Stimmen, die in sauberster Intonation Auskunft geben auch über Wesen, Alter, Herkunft der Menschen, aus denen sie strömen.

Soave sia il vento

Wären da nicht Eindrücke wie die zwei Arien Fiordiligis oder die Streicher als coolmagisch lautmalende Aromaspender des Terzetts „Soave sia il vento“: Man möchte Cosi fan tutte für eine, ja für die Oper der Sängerensembles und Bläser halten.

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Die Großversuchsanordnung gegen den Mythos brautlicher Treue führt in Mozarts Cosi-Musik zur Erforschung der liebeträumenden Seele. Gefühle, resümiert die Ratio, lassen sich nicht planen. Bei Strafe endogener Depressionen: Cosi fan tutte!

Die vier bis sechs Tutti-Akkorde am Ende der Ouvertüre, Motto und Titel der Oper, sind allerdings nicht das letzte Wort. In der Coda, nach einem Mini-Einschub des Adagio vom Anfang, geht der Wirbelsturm der Libido noch einmal los. Die Ratio formulierte die Quintessenz. Aber die Gefühle wachsen ihr am Ende über den Kopf. Das Ergebnis: Ein Trümmerhaufen.

Ouvertüre

An großartigen Cosi-Aufnahmen besteht kein Mangel. Teodor Currentzis setzt mit dieser Einspielung für voraussichtlich einige Zeit gleichwohl einige neue Maßstäbe.    Junge Welt, November 2014

Mozart: Cosi fan tutte K. 588 – Kermes/Emman/Tarver et al./MusicAeterna Chor und Orchester/Teodor Currentzis (Sony Classical)

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