Bijlsma. Anner.Porträt

Anner Bijlsma im Gartenzimmer seines Zuhauses in Amsterdam

Lange waren meine Besuche in Amsterdam immer auch Besuche in der Vondelstraat am Rand des großen Parks mit dem Denkmal des niederländischen Barockdichters. Dort in dem alten roten Backsteinhaus saß man im Keller in der Küche, die offen war nach hinten zum Gartenzimmer mit dem Blick über die Büsche in den Park. Oft war da noch anderer Besuch, Kollegen, Freunde, die Kinder. Man schaute, wie Bijlsma zu sagen pflegte, “was unterm Korken ist”, und hatte immer wenigstens ein Thema: die Musik. Das ist nun vorbei. Anner Bijlsma starb am 25. Juli 2019 nach langer Krankheit. Er war bis zuletzt am Schreiben. Erinnerungen, das letzte Buch über seinen Gott Johann Sebastian, von dem er alles wusste, mit dem er die Welt bereiste und beglückte. Ich schreibe so gern, sagte er oft, als die Hände ihm längst das Spielen auf dem alten Instrument und auf seinem geliebten fünfsaitigen Piccolo Cello versagten. Allen, die ihn liebten, bleibt die Erinnerung. Und seine Musik. Über den folgenden Text von 2003 legt sich künftig der Schatten des Präteritums.

 

Es gibt Klassikstars, die wollen keine Klassikstars sein. Anner Bijlsma ist nun aber einer. Allerdings, er passt in kein Schaufenster. Die Marketingabteilungen der Plattenmultis versahen ihn trotzdem  mit dem Label  “Bescheidenheit, Zurückhaltung, Originalität “. Seine Anhänger  bleiben dabei, ihn aus Gründen zu lieben, die mit Marketing nichts zu schaffen haben. Das Marketing hat  ihn gelegentlich wohl geärgert, so etwa als es seinen guten hollländischen Namen in das für Yankees besser aussprechbare “Bylsma” änderte. Irritiert hat es ihn nie. Er blieb, was er war: Einzig in seiner Art, von Herzen zugetan nur der Musik und den nicht wenigen Frauen und Freunden, die ihn lieben. Ein Mensch, für den die zwielichtige Konnotion des schönen Worts “Lebemann” ins wollüstig  liebevoll Aufgeklärte umzudeuten wäre.

Inauguriert als jüngster Solocellist aller Zeiten beim Amsterdamer Concertgebouw Orkest, hielt es ihn in dem weltberühmten Ensemble nur sieben Jahre. Warum? Er hasst Dirigenten, er lässt sich nichts sagen, er weiß es ohnehin besser. Denn er liebt das Individuelle, das Intime auch im Musikmachen. “Ich muss Blickkontakt haben”, sagt er und seltsam, er hielt das Intime für demokratischer als das Kollektiv, man kommt  ins Grübeln. Den intimsten Blickkontakt hat er mit sich selbst, liebster Anlass:  Bachs sechs Suiten für Solocello. Anner Bijlsma hat sich das Autograph angesehen. Es ist von der Hand Anna Magdalenas, der zweiten Frau Bachs. Sie hat die Urschrift abgeschrieben. Alle Welt ist sich seitdem einig: sie hat einfach viele Stricharten falsch kopiert, klar, sie spielte ja auch nur Cembalo. Aber da widerspricht Bijlsma. “Nur eine Ehefrau, die alles genau so machte, wie es ihr Gatte wollte, kam in den Himmel”, erklärt er. “Darum hat sie alles korrekt nachgebildet” – und er hat es exakt so eingespielt, wie sie es nachgebildet hat.

Das Besondere an Bijlsmas Spiel ist ein, seine dem Leben abgeschaute Wandelbarkeit fast ohne Vibrato erreichender Ton. Er war einer der ersten, die darauf verfielen. Aber er macht daraus kein Dogma. Er hasst die von allen Macken und Kratzern der Materie befreite Perfektion des Digitalzeitalters. Bijlsma erzählt, wenn er spielt, Geschichten voller Witz und Traurigkeit. Er entwickelt Takt für Takt für Takt spielerisch klare Gedanken.

Mit seiner Kündigung beim Concertgebouw Orkest 1968 wandte er sich vom Glanz des Solistendaseins (Ausnahme: die Bachsuiten) ab; er spielte fortan – das war Ende der sechziger Jahre dissidenziell – nur noch auf Darmsaiten und auf originalen Instrumenten. Damit gehörte er mit Musikern wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt zu den Pionieren der historisierenden Aufführungspraxis. Die beiden anderen sind heute weltberühmt. Anner Bijlsma kennen fast nur die Cellisten, für sie ist er eine Legende zu Lebzeiten, die Geschichten über den Unterricht bei ihm handeln von pädagogisch philosophischen Kommödien. Er gibt allen immer viel. Aber nicht als Gönner, sondern als Liebender. Er ist körperlich eher klein und misstraut großen Männern.

Zusammen mit seiner Frau, der Geigerin Vera Beths und dem deutschen Bratscher und Freund Jürgen Kussmaul, gründete er die Streicherformation L´Archibudelli. Sie hat, in kleinerer und größerer Besetzung, vom Barock bis zur klassisch-romantischen Tradition, alles aufgenommen, was an Kammermusik mit Geige, Bratsche und Cello von Rang ist. Zusammen mit dem belgischen Hammerflügelspieler Jos van Immerseel auch alle fünf Beethoven-Sonaten für Cello und Klavier (Vivarte/Sony Classical S2K 60761). Lieber allerdings sind ihm, wie er mir 2017 sagte, die Aufnahmen mit dem US-amerikanischen Clavieristen Malcolm Bilson.

In Mozarts  Divertimento für Streichtrio bringen L’Archibudelli  die raffiniert verwickelte Stimmführung in ein pulsierend polyphones Spannungsfeld. Da tritt die  wie in seine DNA eingeschriebene Volkstümlichkeit der Kunst  Mozarts ungekünstelt hervor, seine hintergründig formbewusste Art, uns zu vergnügen.

Oder L’Archibudellis Schubert. Die beiden Trios (SK 62695), das Forellenquintett, die Arpeggione-Sonate (Vivarte/Sony Classical SK 63 361)  und das C-Dur Quintett  (Vivarte/Sony Classical SK 46 689). Alle ohne modische Übertreibungen eine Sorte Musiker zeigend, deren Regelverletzungen dem Klassiker Beethoven näher sind als dem Romantiker Schumann.

Oft und gern greift Bijlsma zu seinem Cello Piccolo, einem kleinen fünfsaitigen Instrument, dessen Ton fast so hell klingt wie der einer Bratsche. Er spielt auf ihm die 5. Bachsuite. In ihm findet er sich wieder. “Ich besitze es, seit ich siebzehn bin”, sagt er. “Es hat etwas Ohnmächtiges, als ob es sich nicht helfen kann, das finde ich schön”.  Freitag, 20. Juni 2003

Anner Bijlsma auch im Online-Klassikmagazin VAN, eine Art Nachruf zu Lebzeiten.

 

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