Faust.Isabelle.Bach.Sonaten&Partiten

Der Hirt in den Vorzeiten dessen, was wir heute als ernste Musik hören, blies einsam die Flöte. Der Straßengeiger des Mittelalters, wenn er zu arm war, die Einnahmen mit einem Lautenspieler oder Dudelsackpfeifer zu teilen, war allein in der Gasse, im Wirtshaus, vor den Brautleuten im reichen Bürgerhaus. Da war Langeweile bei Strafe großer Not verboten. Gute Unterhaltung – von “den Märkten” noch nicht platt gemacht – war Pflicht. Auch der fürstlich köthener Hofkapellmeister Bach in seinen sechs Sonaten & Partiten musste viele Jahrzehnte später noch etwas bieten, wenn er mit einer Geige allein Aufsehen erregen wollte.

Legionen von Geigern haben diesen Zusammenhang in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten vergessen: Die Ehrfurcht vor einem Denkmal abendländischer – im Verständnis traditioneller Bachpflege christlicher – Tonkunst legte ihnen den Ausdruck von Weihe und Größe nahe. Große Geiger wie Jascha Haifetz haben die Sonaten & Partiten zu ewigkeitstauglichen Bravourstücken,  einstige Großmachtverkörperungen der Musik wie Anne-Sophie Mutter haben sie zu auf Hochglanz polierten Premiumprodukten verkleinert. Die Geigerin Isabelle Faust geht andere Wege. Sie „interpretiert“ nicht mehr. Sie legt auseinander, legt dar, Isabelle Faust erzählt.

Sie vergisst nicht nur nicht den Rhythmus von Allemande, Bourée oder Gigue, der Bachs Solowerken Bewegung und Gestalt gibt. Sie hat ihn im Blut. Im Tanz, auch wenn man ihn nur hört, sind Bauch und Kopf nur vollständig, wenn sie zusammen wirken: Der Geist tanzt ins Leben, der Körper gefällt sich im Kontrapunkt. Die geigerischen Schwierigkeiten, die sich aus dem hoch komplizierten Formenreichtum ergeben, den Bach auf Basis einer einfachen Ciaccona oder Sarabande entwickelt, sind enorm. Aber Faust hält das Tempo in jedem Takt, sie bleibt in allem, was an Hochvirtuosität zu leisten ist, stabil im Rhythmus.

Kürzlich habe ich anlässlich ihrer Aufführung einiger Sonaten & Partiten in der Hamburger Katharinenkirche erlebt, wie bei Isabelle Faust aufgeregt immer nur das Publikum ist: So viel uneitler Luxus, so bravourös forcierte Zurückhaltung, so wenig Vibrato – die Geigerin selbst, zumindest äußerlich, ist stets die Ruhe in Person.

Es gibt Solisten, die versuchen mit den Sonaten & Partiten zu zaubern. Das geht mit Schumann, mit Chopin, vielleicht mit Debussy. Nicht mit Bach. Bei ihm, so spielt ihn Faust, sind noch die stürmischsten, die schäumendsten Wasser klar, sie faszinieren durch Einfachheit. Die Sechzehntel im Anfang des Präludiums der E-Dur Partita glitzern hell in der Sonne, bevor sie formvollendet herab stürzen. Selbst in die eher trockene Fugenform kommt Leben, wenn man mit Technik so undemonstrativ so sehr null Probleme hat wie diese Geigerin.

Die Geige ist ein kleiner, mit vier Darmsaiten bespannter, im Fall Faust allerdings von einer magischen Bogenhand wie beatmeter Holzkasten. Gerade die Beschränktheit dieser Mittel ist es, die mitreißt, wenn mit ihnen demonstriert wird, wie es klingen würde, wäre die eine Geige nicht allein. Wie mehrstimmig, bisweilen sogar orchestral, ein Einzelnes klingen kann, wenn es sich im Erinnern an die Vielen wiegt. Das Publikum hört zu, es ergänzt, füllt aus und wird nicht müde. Arbeit wird zum Genuss, ein Satz, der als Motto über Isabelle Fausts Kunst stehen könnte, die Geige zu spielen.    Junge Welt, November 2014

J. S. Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001 – 1006 – Isabelle Faust / Darmsaiten und Barockbogen / 2 Einzel-CDs (Harmonia Mundi France)

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