Manacorda.Schubert.Sinfonien. Kammerakademie Potsdam

In der umfangreichen Klassik-Rubrik „unterschätzt, falsch verstanden, ignoriert“ nehmen Franz Schuberts Sinfonien einen der vorderen Plätze ein. Schaut man sich die Konzertprogramme der vergangenen 150 Jahre an, hat es allein die „Unvollendete“ auf eine ihrem Rang entsprechende Aufführungsfrequenz gebracht, mit gewissem Abstand gefolgt von der letzten, der „Großen“ C-Dur Sinfonie.

Ein Musikstück, meinen viele, sei unverändert vorhanden, jede Aufführung hole es gewissermaßen nur aus dem Tiefschlaf. Doch was, wenn es bei jedem Erklingen neu geboren würde? Schuberts sinfonische Partituren etwa wären dann eine Art Doppelhelix, auf deren Grundlage im Geist der Zeit bei jeder Aufführung etwas Neues entsteht – eine von inspirierten Künstlern immer neu variierbare musikalische DNA.

So gesehen ist es erfreulich, wenn Antonello Manacorda sich der berühmten letzten beiden Sinfonien Schuberts annimmt, obwohl es davon zig Aufnahmen gibt. Er hat mit seinem Orchester, der Kammerakademie Potsdam, aber alle acht bekannten Schubert-Sinfonien aufgenommen auf eine Art, die hinhören lässt, lenkt das Ohrenmerk also auf die bislang eher vernachlässigte frühe Produktion, und das war überfällig.

Wer kennt schon die erste Sinfonie von Schubert? Da würfelt bereits der Sechzehnjährige, kaum sitzt er mit am Tisch der Großen, erstaunliche Sechsen. Die Quint-Arpeggien der einen Flöte im zweiten Teil der langsamen Introduktion hat ein vom Leben begeisterter Jüngling erfunden, der bereits meisterhaft instrumentieren konnte. Die in den Notenwerten verdoppelte Wiederholung der Introduktion vor Eintritt der Reprise verweist – wie die schier ewig kreiselnden hohen Holzbläser davor – auf einen im Umgang mit überkommenen Regeln mit allen Wassern Gewaschenen. Nichts vorerst vom Grübler der „Winterreise“, von der unendlich kostbaren Trübsal der späten Werke – in seinen frühen Sinfonien, kann man bei Manacorda hören, äußert sich ein dem Leben zugewandter, kerngesunder Schubert, der freilich seinen Mozart, seinen Beethoven – und auch heute vergessene, damals beliebte Musiker wie Franz Krommer oder Leopold Kozeluch – bestens kannte.

Obschon mit drei Kontrabässen, vier Celli, fünf Bratschen etc. (Trompeten und Pauken historisch) eher konventionell besetzt, macht die Potsdamer Kammerakademie Schuberts bis ins Detail einfallsreichen Orchestersatz willkommen übersichtlich. Auch wenn man nichts davon weiß, meint man, die ungewöhnlichen Harmonie-Sprünge in der Einleitung der „Dritten“ von A-Dur nach F-Dur oder am Ende der Exposition von A-Dur nach a-moll geradezu körperlich zu spüren.

Statt dem melodischen, motivischen Gedanken auf Beethoven-Art einen musikalischen Diskurs aufzuzwingen, zieht es schon der junge Schubert in aller Beethoven-Verehrung vor, in endlos erscheinenden „Längen“ (Schumann) in den harmonisch-klanglichen Räumen zu kreisen; lyrische Gefilde eignen sich besser dafür als heroische.

In der furiosen Schluss-Tarantella der „Dritten“ legt die Kammerakademie gleichwohl beethovensches Brio vor, scharfe Akzente und Nachdruck. Der ungebremst lebensbejahende Rhythmus gemahnt an Rossini. So wie das Orchester etwa im Seitensatz des Allegro vivace der „Vierten“ loslegt, tankt es nicht nur Klang, Kraft, Dramatik, ohne martialisch zu werden; es drängt in schnellen Synkopen auch auf eine Weise voran, dass es – obwohl es so etwas in der Klassik kaum geben kann – geradezu swingt. Das gilt noch für das zweite Thema im Finale der großen C-Dur Sinfonie, das Herz möchte springen.

Und was ist die „Sechste“ nicht gescholten worden als trivial und reizlos, das Finale als oberflächliches Potpourrie. Wie da nun aber glasklare Holzbläser herzallerliebst mit dem beethovenschen Sforzati-Donner der Streicher kontrastieren; wie die Figuren dieser Holzbläser in der langsamen Einleitung des Kopfsatzes kein Ende finden und im Andante-Liedchen des zweiten Satzes dann immer wieder mit Tuttischlägen vom anderen Ende der dynamischen Skala abwechseln – das konnte nur von einem wie Schubert kommen.

So, wie Antonello Manacorda und die Kammerakademie an Schubert herangehen, erinnert das nicht verstummende Gerede von den „Mängeln“ der Sinfonien Schuberts an eine Max Liebermann-Anekdote. Der Maler betrachtet mit seinen Studenten ein berühmtes Bild Wilhelm Leibls, die im Festkleid auf der Kirchbank betende Bäuerin. „Der Unterarm ist viel zu lang“, bemerkt völlig zu recht ein Student. Darauf Liebermann: „Der is so jut jemalt, der kann gar nich lang jenuch sein.“      Junge Welt, März 2016

Schubert: Die Sinfonien – Kammerakademie Potsdam / Antonello Manacorda (Sony Classical).

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