(Zwischenüberschriften: Redaktion)
Beethoven hat immer Geburtstag. Mit Aufführung jedes seiner Werke wird er neu geboren. Besonders schwierig ist diese Neugeburt nicht bei den großen Werken, mehr bei den größten, jenen, denen auf ewig die Zukunft gehört. Die Zukunft der Missa solemnis D-Dur op. 123 hat so richtig vielleicht noch gar nicht begonnen.
Geburtshelfer der Stunde ist der belgische Dirigent und Ex-Altist René Jacobs. Die bis 2027 zum 200. Todestag des Tonsetzers weiterlaufende große Beethoven-Edition des Labels Harmonia Mundi France gab ihm mit dem Freiburger Barockorchester (FBO) und dem RIAS-Kammerchor sowie vier exzellent ins Konzept passenden Gesangssolisten erneut einen mit historischer Aufführungspraxis virtuos vertrauten Kreis von Musikern an die Hand.
Vom Gebrauchswert zunächst. Die fünf Abschnitte des Ordinariums der Missa, Beethoven hält sich mit akribischem Eifer an die überlieferte Form des Texts, sind per Einzeltracks in ihren Teilen abzuhören. Das erleichtert jenen, die sich schlau gelesen haben und das Gelesene im einzelnen hörend überprüfen möchten, die Arbeit des Vergnügens. By the way: Wer zur Missa solemnis gerade nicht weiß, welches Buch, dem sei Jan Assmanns Arbeit zum Thema empfohlen. Von Haus aus ein international renommierter Ägyptologe, trägt der offenbar große Musikfreund und Kenner Assmann von Zeit zu Zeit auch in Musikbüchern enormes Wissen zusammen. Im Buch über die Missa findet sich von der Entstehungsgeschichte der Messform und Themen wie »Die Kunstwerdung der Messe« bis hin zum kurzen Einblick in die andauernde wissenschaftliche Kontroverse um die Missa auch eine detaillierte Werkanalyse; das Buch, für den Fall, dass man sich hineinwühlen möchte in die Missa, kommt zu Jacobs’ Neuaufnahme gerade recht.
Der Anlass
Anlass der Messkomposition war die Nachricht von der Ernennung des jüngsten Kaiserbruders Rudolph zum Erzbischof von Olmütz. Eine auch musikalisch zu feiernde Bischofsweihe stand an. Beethoven trug sich schon lange mit dem Gedanken einer großen Messe. Zufällig arbeitete er mit den »33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli« zeitgleich daran, Bachs epochalen »Goldberg-Variationen« etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen. Auch dem anderen Opus summum des Thomaskantors, der h-Moll-Messe, wollte er nun – knapp hundert Jahre nach Bach – mit einem eigenen Werk gerecht werden. Zudem wäre es für ein endlich einmal regelmäßiges und hinreichendes Einkommen sicher nicht schlecht gewesen, wäre er seinem Edelschüler, dem Erzherzog Rudolph, als Domkapellmeister nach Olmütz gefolgt.
Zitat aus meinem Beethoven-Buch: „Als er sich Anfang 1819 an die Arbeit macht, mag er ahnen – er hat ‚immer das Ganze vor Augen‘ –, es wird etwas länger dauern als geplant. Er beschäftigt sich von ‚den Mönchen‘ (Kirchentonarten) bis zu Palestrina, von Bach und Händel bis zu Haydn mit allem, was er in den Bibliotheken des Kaiserhofs, des Hauses Lobkowitz und Erzherzog Rudolphs an Noten ‚aller christkatholischen Psalmen und Gesänge‘ findet.“ Und begegnet in den alten Partituren ihm bis dato mehr vom Hörensagen bekannte musikalische Möglichkeiten. Es scheint ihm offenbar ausgeschlossen, sich ihrer wie gewohnt – nämlich mit „thematischer Arbeit“ sowie mit allgegenwärtiger Polyphonie – zu bemächtigen. Nachahmen oder Zitieren kommt – mit Ausnahme zweier Händel-Stellen – nicht infrage. Er nutzt den Umstand, dass er großen Meistern der Vergangenheit wie Perotin, Buxtehude oder eben Händel an kompositorischer Größe in nichts nachsteht und schreibt in ihrer aller Geist auf ihrer Höhe einen Beethoven, den es vorher nicht gab und nachher nicht noch einmal geben wird. Der von ihm bis an seine Grenzen entwickelte Typus einer sinfonisch-oratorischen Ausspinnung der Idee des Sonatenhauptsatzes – ihr Meisterwerk das Finale der Neunten – macht einer prallen und ungewohnt oft homophonen Vielfalt unterschiedlicher Genres, Stile, Idiome und Tonfälle aus vielen Zeitaltern Platz. Ein bei jedem Hören umfangreicher werdender Reichtum an Musik entsteht. Statt per durchgehend von thematisch-linearer Logik getriebener Teleologie: die Idee eines, wie Peter Gülke sagt, „objektlosen, aus sich selbst bewegten Flusses.“ Rudolphs Inthronisation findet am 9. März 1820 statt. Die Missa ist Anfang 1823 fertig.
Zitat aus meinem Beethoven-Buch: »Als er sich Anfang 1819 an die Arbeit macht, mag er ahnen – er hat ›immer das Ganze vor Augen‹ –, es wird etwas länger dauern als geplant. Er beschäftigt sich von ›den Mönchen‹ (Kirchentonarten) bis zu Palestrina, von Bach und Händel bis zu Haydn mit allem, was er in den Bibliotheken des Kaiserhofs, des Hauses Lobkowitz und Erzherzog Rudolphs an Noten ›aller christkatholischen Psalmen und Gesänge‹ findet.« Und begegnet in den alten Partituren ihm bis dato mehr vom Hörensagen bekannten musikalischen Möglichkeiten. Es scheint ihm offenbar ausgeschlossen, sich ihrer wie gewohnt – nämlich mit »thematischer Arbeit« sowie mit allgegenwärtiger Polyphonie – zu bemächtigen. Nachahmen oder Zitieren ist – mit Ausnahme zweier Händel-Stellen – keine Option. Ihm kommt zugute, dass er großen Meistern der Vergangenheit wie Pérotin, Buxtehude oder eben Händel an kompositorischer Größe in nichts nachsteht, und er schreibt in ihrer aller Geist auf ihrer Höhe einen Beethoven, den es vorher nicht gab und nachher nicht noch einmal geben würde. Der von ihm bis an seine Grenzen entwickelte Typus einer sinfonisch-oratorischen Ausspinnung der Idee des Sonatenhauptsatzes – ihr Meisterwerk das Finale der Neunten – macht einer prallen und ungewohnt oft homophonen Vielfalt unterschiedlicher Genres, Stile, Idiome und Tonfälle aus vielen Zeitaltern Platz. Ein bei jedem Hörr Reichtum an Musik ent
In ihr muss man nicht bis zum Chorfinale warten, bis Beethoven die Assoziationen an Deckengemälde Michelangelo Buonarottis oder Giovanni Battista Tiepolos weckenden chorsinfonischen Himmelsklanggewölbe aufspannt. Ein ruhig schönes Kyrie lang steht Beethovens Lehrer Haydn von fern noch einmal Modell. Dann geht es im Gloria mit Pauken und Trompeten richtig vollchor los. Ehre sei Gott in der Höhe, preisen die Engelsscharen. Dann, im tiefen Bass, piano auf einem Ton fünf Takte mittelalterlich mönchisch, melden sich mit dem Wunsch nach Frieden die Erdenbewohner zu Wort. Eine kaum bemerkliche musikhistorische Rolle rückwärts. Die Missa ist voll von solchen Kontrasten und Sprüngen. In ihnen, so die konservative Deutung, geht es gemäß dem vom Komponisten strikt befolgten liturgischen Text durchweg um den Gegensatz von Gott und Mensch, Oben und Unten. Der mit einem Riesenaufgebot an vokalen und instrumentalen Stimmen aufwartenden Fuge desselben Gloria könnte man allerdings auch entnehmen: Der da so prachtvoll und schwungvoll die Allmacht Gottes beschwörende Komponist ist Teil einer Menschheit, in der es selbst schon ein Oben und Unten gibt. Beethoven als einer der Unteren steckt als ihr Urheber zugleich selbst in der klingenden Darstellung höherer Allmacht. Dass er selbst allmächtig wird, indem er sie Klang werden lässt, ist republikanisch gedacht. Insofern auch die Chöre der sechsflügeligen Cherubim in der Himmelshierarchie zu den Unteren gehören, könnte man die herrlichen Töne des dreieinigen Oben in der Missa als Projektionen hören. Der Bürger Beethoven hätte in ihnen noch in der Zeit nach dem Wiener Kongress die grenzenlose Zukunftsgewissheit des aufgeklärten Teils seiner Klasse in Musik aufbewahrt.
Apropos Tiepolo. Mir ist es früher beim Hören der Missa gegangen wie beim Betrachten des Deckengemäldes im Treppenhaus der Würzburger Residenz. Ich war erschlagen von der Fülle ästhetischer Reize und nahm erst einmal gar nichts wahr. Die Lösung: näher heran. Im Auditiven bieten die vielen Mikrophone einer CD-Aufnahme diese Möglichkeit. Selbst im Konzertsaal – je kleiner (bis zu einem gewissen Grad), desto besser – lässt darüber hinaus der je charakteristische Klang der alten Instrumente ihre Trennung und Interaktion in Orchestergruppen deutlicher hervortreten als bei modern-konventioneller Instrumentation. Dirigent Jacobs sorgt mit bewusster Steuerung der Klangbalance für weitere Durchhörbarkeit. Als ehemaliger Sänger hat der Belgier ein Händchen auch für die Einbettung der Vokalstimmen in den Instrumentalklang.
Er führt das Oben und Unten und die vielen aus ihm resultierenden Diskontinuitäten der Missa zu einem plausiblen Hörerlebnis zusammen. In den mir bekannten Aufnahmen und Aufführungen – mit Ausnahme der von Michael Gielen – vermisste ich gerade den Eindruck ästhetischer Geschlossenheit. Jacobs demonstriert sie besonders glücklich im Benedictus. In kaum einer anderen Passage scheint es so schwierig, die unterschiedlichen Dimensionen und Energien der die Missa Aufführenden sinnvoll zu organisieren. Am meisten zu kämpfen mit einem gewissen Befremden seitens des Publikums hatte wohl immer die solistische Geige im Benedictus. In Jacobs’ Neuaufnahme überzeugt die Konzertmeisterin Anne Katharina Schreiber vom ersten Ton an. Von den Flöten weiß gehöht, fliegt sie in den Sphären eines dreigestrichenen g aus dem wie ein Orgelchoral farbig präsenten Präludium ein und schwebt in Sekundschritten herab in ein über lange Strecken auch in den Chor- und Orchesterpartien kammermusikalisch wirkendes Geschehen. Man verstand das Geigensolo lange Zeit als Violinkonzert innerhalb der Messe, man hat es so interpretiert: mit ebensoviel Emphase wie virtuosem Glanz. Aber trotz vermeintlicher Klangverstärkung durch heftiges Vibrato schaffte es die Geige kaum je, mit all ihrer von Beethoven verliehenen melodiösen Grazie nennenswert aufzutauchen aus dem, wie es schien, immer zu groß dimensionierten Chor- und Orchesterklang. Schreiber dagegen muss sich nicht größer machen, als sie ist. Sie übernimmt – non vibrato und unangestrengt – eine besondere, nämlich die Geigenstimme unter fünf solistischen Gesangsstimmen und singt ihren – sagen wir: konzertant ariosen – Ensemblepart eben nicht mit der Kehle, sie singt ihn, immer gut wahrnehmbar, mit Geigenkorpus und Bogen und steht zu dieser Art Besonderheit auf eine Weise, die sich musikalisch einem Klangorganismus anverwandelt, der ihr allerdings dank Jacobs genau den Raum lässt, den sie um ihrer Wirkung willen braucht. Ein wohlig heiliges Schunkeln. Die sich in so vielen Missa-Aufführungen zwischen Hörende und Musik schiebende Monumentalität kommt nicht auf: Man fühlt sich »näher dran«, die Missa wird – fasslich.
Eine Kirche für sich
Die im Zusammenhang mit speziell diesem Werk immer wieder auftauchende Frage nach Beethovens Gottesverständnis beantwortet Jan Assmann unter anderem so: »Nachdem ihm klar geworden war, dass er die Messe nicht rechtzeitig (…) fertigstellen konnte und er sich vom Gedanken an eine liturgische Aufführung im Rahmen des Festgottesdienstes verabschieden musste, fühlte er sich frei, (…) seine Messe nicht (nur) für den Gottesdienst, sondern (auch) für einen beliebigen Konzertsaal zu komponieren (…). Zugleich kam es ihm aber darauf an, seine Messe so intensiv und exzessiv mit religiösen Emotionen gleichsam aufzuladen, dass sie sich in Kopf und Herzen der Zuhörer als ein sakraler Vollzug ereignen und den Konzertsaal in einen sakralen Ort verwandeln konnte.« Im Begriff »religiös« verschwimmen die Grenzen zwischen Kirchenwelt und Menschenleben. Beethoven war im Sinn einer Art Haltung – nicht eines Inhalts – »religiös«, die auch Atheisten kennen und schätzen. Er war, obwohl durch die Bonner Hoforganistentätigkeit in seiner Jugend mit der Liturgie bestens vertraut, kein Kirchgänger. Mit dem Musikautor Max Kalbeck könnte man leicht kantisch sagen: Beethoven war sich selbst Kirche genug.
Es gab schon in seiner Zeit verschiedene Formen des Glaubens, den Pantheismus Goethes, fernöstlich angeregte Spielarten der Spiritualität, agnostische Sichtweisen. Der vom Weltbild der Aufklärung erschütterte Gott, an den sich der alte Beethoven in seinen persönlichen Aufzeichnungen und im Schlusschor der 9. Sinfonie öfter zu wenden scheint, war längst nicht mehr identisch mit dem autoritär obrigkeitlichen Gott der Christenheit. Beethoven stand am Beginn einer Entwicklung, an deren Ende niemand damit, dass sie oder er »mein Gott« oder »in Gottes Namen« seufzt, in den Verdacht gerät, religiös zu sein. Recht nah an Beethoven heran dürfte, die Glaubensfrage betreffend, Felix Mendelssohns Vater gekommen sein, sechs Jahre jünger als Beethoven. Er schrieb in einem Brief an seine Tochter Fanny: »Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Teil unserer selbst ewig sei und, nachdem der andere Teil vergangen, fortlebe? Und wo? Und wie? – Alles das weiß ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein, ich weiß, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen gibt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiß es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben, und er ist meine Religion.«
So entschieden gründlich Beethoven mit dem Messetext umging – anders als Schubert in allen seinen Messen komponierte er auch das Bekenntnis zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche mit –, so konsequent erdet er in seiner Vertonung die sich im Himmel verlierenden Formeln der Kurie. Beethovens sogenannte heroische Periode endete nach verbreiteter Ansicht 1812. Aber als er ab 1819 an der Missa arbeitet, hat der Modus seiner Vertonung der kirchenheiligen Schrift schon mit Beginn des Glorias und des Credos und an anderen Stellen einen Zug, den man mit Fug erneut »heroisch« nennen dürfte. Da strömt in der Musik – so kann man es hören, so scheint es Jacobs’ Interpretation nahezulegen – eine Vielzahl von Aktivisten hochgemut kraftvoll auf etwas abgemacht Wünschenswertes zu.
Jan Assmann ist wohl nicht der einzige, dem im Credo auffiel, dass Beethoven mit der Auferstehung Christi und der Toten offensichtlich wenig anfangen konnte. Er widmet den diesbezüglichen vier Zeilen des Textes sieben Takte. Auf die letzte einzige Zeile aber – et vitam venturi saeculi (und das Leben der kommenden Welt) – komponiert er in knapp 170 Takten eine der schönsten und musikalisch interessantesten der unsterblichen Fugen seines Spätstils – »das Credo, das Credo mit der Fuge«, jauchzte aus ihrem Anlass Thomas Mann in seinem »Faustus«-Roman. Die je nach Missa-Text von unten nach oben und umgekehrt so auch am Ende des Credos durch die Stimmen laufenden Skalen erinnern Assmann an Jacobs Traum im Buch Genesis. »Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder.« Aus Himmelsleitern macht Beethoven Tonleitern. Muss man das Schrifttum von Augustinus bis Ernst Bloch kennen, um in den biblischen Bildern vom Verkehr zwischen Himmel und Erde mit Beethoven den Traum von »der kommenden Welt« zu ahnen? »Religion«, sagt Schleiermacher, von Assmann zitiert, sei »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«. Noch ein schöner Anhaltspunkt fürs Nachdenken über Beethovens Art von Religiosität.
Eine Messe für den Frieden
Im abschließenden Agnus Dei der Showdown alles Unteren. Beethoven beschreibt im Miserere in h-Moll, seiner »schwarzen Tonart«, das irdische Elend, jesuitisch schlau verknüpft mit Peccata mundi, der Schuld der Welt: Kein Wunder, Welt, wer sich so übel beträgt, wird mit irdischer Not – womit auch die erklärt wäre – nicht unter einer Ewigkeit bestraft! Adagio. Finster und lastend. Getragen. »Die Musik stellt nicht dar, sie bildet nicht ab«, stellt Jan Assmann fest. »Sie vollzieht, ist nicht objektivierende Darstellung, sondern dramatisierender Ausdruck des Gegenstands.« So könnte man René Jacobs’ Lesart der Missa beschreiben. Auch die Hörenden vollziehen nach. Jede und jeder anders und jedesmal anders, aber immer: aufregend zu allerlei Gedanken.
Man weiß nicht, was beglückender wäre: das in seiner Lebendigkeit zum Niederknien an Rembrandt erinnernde Dunkel des Qui tollis. Oder die fröhliche Leichtigkeit des folgenden Allegretto vivace. Jacobs weist im Booklet-Gespräch mit dem FBO-Dramaturgen Martin Bail darauf hin, dass Leopold Mozart ein Allegretto vivace als »artig, tändelnd und scherzhaft« charakterisiert habe. Ein Siciliano-Rhythmus »im Sechsachteltakt; viele witzige Begleitfiguren und spielerisch-leichte Sechzehntelläufe«. Jacobs: »Ein Friedensfest.« Klar, mit dem Dona nobis pacem ist der Schluss der katholischen Messe erreicht. Noch einmal soll sich, dafür ist wie eine Art Mediator zwischen Oben und Unten der Gottessohn zuständig, der Himmel der durch eigene Schuld ins Elend geratenen Menschheit erbarmen, er soll ihr den Frieden gewähren. Die Unteren feiern in wunderlicher Fröhlichkeit etwas, in das bei Beethoven dreimal sein Gegenteil hereinbricht, der Krieg. Auf Bails Frage, ob die Missa am Ende »eine Messe für den Frieden« sei, antwortet Jacobs: »Ich glaube, ja.« Entsprechend bildhaft gelingt dem Dirigenten die Musik an jener Stelle, an der der Krieg hereinbricht; er inszeniert sie theaterhaft als Hörbild einer in abnehmender Dramatik dreimal mit Pauken und Trompeten – beim letzten Mal fast drollig kleinlaut – wiederauftauchenden Aggression und macht die Missa so am Ende zu einer zutiefst irdischen Angelegenheit. Das Dona nobis pacem gerät nicht allein zum Friedensfest, es wächst von der frommen Bitte einer demütigen Gemeinde zur lateinischen Fassung der Forderung einer kämpferischen Menschheit heran: »Peace now!«
Die Rezeption
Wie ihre Vergleichsgröße, Bachs h-Moll Messe, hat es Beethovens Missa zwar aus der Liturgie in den Konzertsaal geschafft. Anders als Bachs Großtat ist sie bis heute nur nicht im Repertoire angekommen; sie erscheint auch 200 Jahre nach ihrer Entstehung relativ selten in den Spielplänen. Die Leute wissen am Ende offenbar ebensowenig wohin mit der Missa, wie die Musikwissenschaft bis heute an ihr zu beißen hat. Die bemerkenswerteste Extrawurst in der Debatte um Beethovens nach eigener Einschätzung »größtes Werk« briet der ansonsten mit einem herausragenden (fragmentarischen) Beethoven-Buch hervorgetretene Theodor W. Adorno. Ihm erschienen die Missa-Debatten als Streit um des Kaisers Bart, die Missa als Missgriff. Vor allem im Hinblick auf Igor Strawinsky waren »neoklassizistische« Rückfälle für Adorno als dem Propagandisten des Fortschritts in der Musik ein ästhetisches »No-Go«.
Der russische Neutöner war nach dem Ersten Weltkrieg nicht der einzige, der sich im globalen Trümmerfeld auch der Kunst für eine Weile im Gewesenen umschaute. Noch ausgeprägter neoklassizistisch zeigte sich Pablo Picasso. Er hatte mit den »Demoiselles d’Avignon« knapp ein Jahrzehnt vor dem August 1914 »das« erste Gemälde der Moderne geschaffen, begann aber während des Kriegs plötzlich – parallel zum kubistischen Aufbruch in ästhetisches Neuland –, große und schöne, in ihrer klaren Rundlichkeit an der Antike orientierte Frauengestalten zu malen.
Beethoven, seit langem mit Werken wie der Eroica auf »neuen Wegen«, hatte die Schreckenszäsur des Wiener Kongresses 1815 zu verkraften. Er komponierte nach einer längeren Schaffenskrise kurz vor der Missa mit der Hammerklaviersonate ein Werk, von dem er, sich leicht verschätzend, seinem Verleger gegenüber vermutete: »Die wird noch in fünfzig Jahren gespielt.« Sie war ein musikalischer Quantensprung, noch heute vielen ein Rätsel. Ein Jahr später begann die Arbeit an der Missa. Ihr folgte das durchweg avantgardistische Alterswerk.
Ist es wirklich verwunderlich? Wer sich so weit in die Höhen seines Metiers hinaufbegibt, hat – zugespitzt in Zeiten großer Krisen – das Bedürfnis, sich umzuschauen und zurechtzufinden, um sich schließlich zu verorten im zum Schwindeligwerden geweiteten Entwicklungsraum um sich herum. Erst danach ist ein Weitersteigen möglich. Darüber, wieviel Modernität die dabei entstehenden Werke ihrerseits wieder enthalten, wird auch in Zukunft nachzudenken sein. Und sie werden weiterhin Gegenstand sein auch von so einladend angemessenen Interpretationen wie der Neuaufnahme der Missa solemnis Beethovens aus Frankreich. junge Welt, April 2021