GENAUITIS

Es hat nach meiner Erinnerung lange gedauert. Dann begann es abzuflauen, jetzt ist es nur noch in Resten vorhanden. Eine Epidemie. Sie grassierte in den Köpfen und Mündern überall in der Kommunikation meiner Mitmenschen. Ein einziges kleines Wort, unscheinbar, zwei Silben. Ich kannte es seit der Kindheit. Jemand sagt etwas, jemand anders ist derselben Meinung und bestätigt: „Genau“. Alles klar.

Nun hatte sich damals dieses „genau“ aber nach und nach von seinem Ursprung entfernt, es hatte sich verselbstständigt; und das verselbstständigte „genau“ begann frei von jeder Grammatik die Syntax meiner Mitbürger zu überschwemmen. Zur Überschwemmung kam hinzu: wenn jemand etwas sagen wollte, kam erst einmal nichts. Aber davon wusste natürlich niemand. Denn unsichtbar für die Mitwelt waren die Redenden wahrscheinlich bereits auf Empfang. Aber da sammelte sich was.

Was bitte ging da ab? Ich habe lange überlegt. Das Genau, so stelle ich es mir heute vor, hat seine genuine Funktion als Bestätigungsvokabel nie verloren. Nur hörte es sich irgendwann an, als sei die zur Kommunikation unverzichtbare weitere Person verschwunden, als sei sie in die Sprechenden eingewandert, um als Männlein im Ohr oder in irgendeiner anderen ungenderbaren Allegorie der Versprachlichung des Bewusstseins seiner Tätigkeit nachzugehen.

Die Sprechenden äußern zwar, was ihnen ihr Ohrmännlein, ihr Ohrweibchen an interessanten Gedankengängen und Ideen verraten hat. Aber sei es, der Begriff, den sie ansteuerten, braucht vom Großhirn bis in die Sprechorgane etwas länger, sei es, ihnen fällt nach Beendigung einer Sentenz noch ein kleiner Anschlussscherz ein – der Moment zwischen dem Ende der entstehenden Mini-Pause und dem Anstimmen des Begriffs oder des pfiffigen Nachsatzes ist ideal für das eingeschobene Genau.

Aber auch für das vorangestellte Genau gilt: die Befallenen lassen uns für eine unterschiedlich lange Weile im Dunkeln, sie empfangen eine Botschaft. Vielleicht nicken sie innerlich, man sieht und hört ja nichts. Mit dem herausbrechenden Genau vor dem Anstimmen des ersten Worts aber ist es, als habe etwas dem Gedanken nur kurz im Weg gestanden, etwas, dem mit einem quicken Genau nun die imaginäre Zunge gelöst wurde. Oder die Redenden geben sich mit besagtem Genau einen Schwung, der die Rede ohne das Vorangestellte ­ – genau – vielleicht etwas lahm erscheinen ließe.

Genauitis, das könnte die in den Einzelnen angekommene „Spaltung“ der Gesellschaft sein. Dieselben Leute beklagen diese Spaltung, die sie mit Ausländerhass, Kriegshetze, mit allen Schattierungen von Diversität und politischem Schwachsinn anfeuern, seit ich lesen kann.

Man wüsste doch allzu gern, was Heinrich von Kleist, würde er für ein Paar Wochen reinkarnieren, von der Genauitis hielte. Vermutlich deuchte sie ihn eine seltsame spät verwirrte Laune bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden.

POLITFEUILLETON