Ab jetzt weht ein anderer Wind.Gedanken zu René Jacobs‘ „Ur-Leonore“.

René Jacobs wurde in den 90er Jahren als Countertenor berühmt. Als Dirigent blieb er dem Barock treu. Aber dann nahm er, zusammen mit jeweils einem der führenden deutschen Barockorchester, alle späten Mozart-Opern auf, und ich wüsste neben vielleicht Arnold Östman und Teodor Currentzis (im Kommen: Riccardo Minasi) kaum einen Dirigenten, der das heute besser machte. Mit Orchestermusik tut er sich schwer. Jacobs ist Sänger. Vielleicht ein Grund, warum bei ihm bislang an Beethoven nicht zu denken war. Jetzt dräut 2020 das Beethoven-Jahr. Und Jacobs kommt mit einem beethovenschen Paukenschlag. Er dirigiert das Freiburger Barockorchester und einen Cast durchweg erfreulicher Sänger, allen voran als Titelfigur Marlis Petersen, mit Beethovens einziger Oper »Leonore/Fidelio« – in der Urfassung.

Die erste, ursprünglich »Leonore« betitelte Textfassung von Joseph Sonnleith­ner geht im November 1805 unter dem Namen »Fidelio« über die Bühne des Theaters an der Wien, dem Neubau der kleinen Volksbühne in der Wiener Vorstadt Wieden, wo Mozarts »Zauberflöte« das Bühnenkerzenlicht der Welt erblickt hatte. Ein Flop. Denn der Wiener Adel hat die Stadt verlassen, Wien ist von Napoleons Truppen besetzt; im Zuschauerraum sitzen fast nur französische Offiziere. Sie verstehen kein Wort. In Beethovens Oper wird deutsch gesungen, die Musik entbehrt des gewohnten »Esprit«. Der vom Beethoven-Freund Stephan von Breuning runderneuerten zweiten Fassung ergeht es im folgenden Frühjahr 1806 unter dem von Beethoven favorisierten Titel »Leonore« nicht besser. Erst 1814, im Zuge des durch die Schlachtensinfonie losgetretenen Beethoven-Hypes während des Wiener Kongresses, erlebt die Oper ihren Durchbruch; sie gehört seitdem ins Weltopernrepertoire.

Die Zahl von drei Leonoren- und einer Fidelio-Ouvertüre macht dagegen deutlich: Der Tonsetzer kam mit dem Stück nicht zurecht. Noch die heute übliche dritte Fassung aus der Hand des Wiener Bühnendichters und Regisseurs Georg Friedrich Treitschke beginnt als harmloses Singspiel, schreitet mit dem berühmten Gefangenenchor zum für ein Singspiel allerdings viel zu großen Freiheitsprospekt voran und verdüstert sich in den Kerkern des zweiten, abschließenden Akts unversehens zum Befreiungsdrama mit oratorisch üppigem Happy-End. Ein dünner roter Faden, kaum dramatischer Fluss, Musik großartig, Theater und Figurenprofil mau.

Kultoper der Linken

Jacobs hat sich das alles durchgesehen. Er entschied sich für die dreiaktige Urfassung als die vergleichsweise beste Lösung des Problems »Leonore/Fidelio«. Die neue CD im Ohr, pflichtet der Rezensent verblüfft bei; die Neuaufnahme bringt auf Gedanken. Die Oper hat, besonders in der Linken, seit länger als einem Jahrhundert Kultstatus. Da geht es um Freiheit, Gerechtigkeit, ums am Ende belohnte Leiden für hehre Ideen. Ernst Bloch hörte im Höhepunkt der einzigen Oper Beethovens, dem rettenden Signal der Trompete vom Turm, das Ende des langen Tunnels vernunftvergessener Geschichte, den Tag der Verheißung. Der Chor der Gefangenen überhöhte sich wie von selbst in den Topos des willkürlich eingekerkerten Kämpfers fürs Gute in der Welt. Seltsamerweise hatten Leute wie die in Deutschland zwischen 1933 und 1945 Regierenden bei allem, was sie sonst noch so in der Welt anrichteten, keine Probleme, Beethovens »Fidelio« nicht nur aufzuführen, sondern sich die Oper auch noch öffentlich anzuhören, ohne vor lauter Scham auf Nimmerwiedersehen im Erdboden zu versinken.

Kaum jemand kennt das Werk in der vom opernungewohnten, zwischen 1805 und 1814 opernseitig immer mehr verunsicherten Beethoven noch nicht vielfach korrigierten Gestalt. John Eliot Gardiner scheiterte 1997 an der »Leonore«, als er den Schauspieler Christoph Bantzer veranlasste, das Werk mit seinen vermeintlich altmodischen Dialogen durch von Bantzer geschriebene und von diesem in rheinischem Karnevalston gesprochene Erzählertexte zu »modernisieren«. Der Mime entoperte den »Fidelio« damit endgültig. Jacobs dagegen übernimmt die Dialoge Sonnleithners; er ließ sie, auch leider nicht sehr überzeugend, aktualisieren. Erstaunlich das Ergebnis.

Schon die Wahl der Leonore II als Ouvertüre erscheint glücklich. Denn die Atmosphäre am Beginn schlägt den Bogen zur Kerkerfinsternis Florestans im finalen Akt. Ein weiteres tragendes Element der vom läppischen Anfang zum weltanschaulichen Breitwandpanorama der letzten Szene führenden Strecke: das auf seine Wiederkehr am Angelpunkt der Handlung verweisende Trompetensignal ausgangs der Ouvertüre.

Gezielt singspielhaft, beginnt die Oper in der Urfassung von 1805 mit einem Dialog. Das funktioniert besser als die unvorbereitete, auf den oft kaum zu verstehenden Text eines Duetts und einer Arie verkürzte Fidelio-Exposition von 1814. Denn die folgende Arie und alles weitere, im zweiten »Fidelio« gestrichene Geschehen wirkt, vom Dialog biographisch beleuchtet, vom ersten Ton an auch musikalisch plausibel. Die Figuren bekommen in den Dialogen leichthin, was Beethovens Musik zumindest für die Nebenfiguren nicht leistet: Individualität. Jacobs wählt Tempi, die den Handlungseindruck konzentrieren und dem Singspiel die biedermeierliche Gemütlichkeit austreiben: Ein hitziger junger Mann sucht die Nähe einer von einem anderen begeisterten jungen Frau. Der nächste Dialog bereitet das nach dem Duett fällige Terzett vor, volksmusikantisch verwienerschulte Fröhlichkeit, eine für Beethoven nicht gerade typische Hörvergnüglichkeit. Die drei Nebenfiguren sind hier plastisch und putzmunter wie sonst selten. Der Konflikt ist zunächst eindeutig privat. Nur angedeutet der wichtige, gar nicht lustige Umstand, dass die Insassen des Singspielunorts Gefängnis politische Gefangene sind. Die Hörerinnenschar ist mithin innerlich vorbereitet auf den das Singspiel auf berührend gefühlige Art unterlaufenden musikalischen Höhepunkt des ersten Aktes, den ersten zarten Bruch in der »Leonore«: Im Quartett-Kanon »Mir ist so wunderbar« finden die Figuren, jede für sich, in köstlich imitatorischer Simultanität in eine Welt jenseits der in dieser Oper bis dahin geltenden Harmlosigkeit. René Jacobs legt das berühmte Ensemble nicht ins psychologisierend Sphärische, in den romantisch gelesenen Nachthimmel der Seele, was auch sehr schön sein kann. Bei ihm lenkt, auf andere Weise auch schön, die Musik mit herrlich gesungenen Vokalpartien und dem begleitend-konzertierenden Einsatz der fabelhaften Freiburger Holzbläser, Naturhörner (!) und Streicher die Aufmerksamkeit auf sich selbst.

Die Welt der Moderne

Mozarts »Entführung aus dem Serail« musste bis zum Ende in Gänze ein Singspiel bleiben, der Quantensprung des »Figaro« war noch zu weit weg. Der Komponist des eröffnenden Singspielakts der »Leonore« dagegen hat bereits die sinfonischen Entdeckungen der »Eroica« hinter sich, er schreibt Singspielnoten vierzehn Jahre nach dem größten Singspiel der Operngeschichte, der »Zauberflöte« – das heißt für einen wie Beethoven: Zurücknahme. Einen wie Mozart kann er, zumal in der Oper, nicht toppen, da wird er scheitern. Er tut das im ersten Akt der »Leonore« auf Höchstniveau. Das Freiburger Barockorchester findet für dieses Scheitern den Ton: das nach mozartschen Rezepten mit dem Wiener Volkston vermischte Idiom der italienischen Buffa. Da mögen Jacobs’ Sänger sprechend hier und da leicht provinziell wirken. Was sie sagen und vor allem was sie singen, hält die Oper auf eine, verglichen mit bisherigen Fidelio-Erfahrungen, gewinnende Art auf Zack und ist im Ton so einheitlich, dass mit dem ersten Akkord des zweiten Aufzugs klar ist: Ab jetzt weht ein anderer Wind. Marschmusik. Geschichte kommt auf. Staatsorgane, Politik, Intrigen, ganz die Welt der Moderne. Aber sie ist historisch noch zu jung, kommt hinzu, Beethoven ist noch kein Opernkomponist, er wird es nie werden. Also bricht über das Staatsgeschehen mehr und mehr erneut das Singspiel herein; selbst die in vielen Inszenierungen als Märtyrer glorifizierten politischen Gefangenen sind weniger elende Opfer einer nicht näher bezeichneten Ungerechtigkeit als aus unverschuldeter Finsternis sich meldende Hoffnungsträger lichterer Zukunftswelten.

Aber dann wird’s wirklich dunkel, unten in den Verliesen, wo sich – Florestan ist am gezielt herbeigeführten Verhungern – der Knoten schürzt und schließlich platzt. Per harmonisch abschreckender Basschromatik entsteht zunächst kontrafagotthöllisches Dunkel, üppige Orchesterfarben auf düsterer Palette. Man erfährt, worunter Florestan leidet und was er sich erträumt. Man erfährt nicht, wer dieser Florestan ist.

Ich kann mich nicht erinnern, Beethovens Opernorchester, besonders im zweiten Finale mit seinen Anwandlungen von Hochdramatik, so farbenfroh, kammermusikalisch sprungbereit und springlebendig gehört zu haben, so dito detailfreudig, wie es René Jacobs hier mit den Freiburgern gelingt. Mit dem Trompetensignal – Ernst Bloch wäre hoch einverstanden damit gewesen, wie Jacobs es macht – löst sich eine ins schier Unerträgliche gesteigerte Spannung. Man möchte lautersten Herzens von einem »unbeethovenhaften« Beethoven sprechen, volleinverstanden, weil Beethoven – neben Bach als Stammvater geltend einer vor allem als Form gedachten Musik – sich bei Jacobs auch als Klangzauberer erweist. So kann die Hörerin im Terzett »Euch wäre Lohn in bessern Welten«, angeödet von den allzu hehren Moralphrasen des Textes, freudig begeistert zu allem flüchten, was Jacobs anlässlich von Beethovens Partitur im Orchester anrichtet. Liebsame Holzbläserkantilenen, kontrapunktisch inspirierte Läufe der Celli und Kontrabässe, alles wuchtig, dynamisch, transparent.

Terzett Nr. 6 „Gut, Söhnchen, gut“

Euch wäre Lohn in bessern Welten? Ein schwacher, fast aristokratisch-edler Abglanz einst glühender bürgerlicher Freiheitsträume. Beethovens ganze Oper leidet unter dem von der Zensur erpressten Drang ins idyllisch Ideelle. Das Materielle, in Mozarts Opern ab spätestens »Idomeneo« als individueller und zugleich sozial bedingter Charakter in allen Figuren eingelöst, bleibt bei Beethoven unausgefüllt. Seine Menschen singen, was sie denken und auch was sie, in einem wie ein Schild vor sich her getragenen Affekt, fühlen. Man versteht. Auch die Gefühle. Man fühlt sie nur kaum, es werden aus ihnen am Ende keine lebendigen Menschen, eher Typisierungen menschlichen Verhaltens.

Eine Oper an einem Ort, der sich in seiner Enge im Lauf der kaum vorhandenen Handlung nur in die Tiefe erweitert. Eine Art Hör-Spiel, das Geschehen bedarf keiner Kulissen, kaum einer Bühne. Alles ist in der Musik. Keine Theatermusik wie bei Mozart. Eine Musik der Ideen auch, wo sie Hochstimmung oder Gestimmtheiten beschreibt.

Schwerstarbeit

Was musste sich der arme Beethoven strecken, bis er an ein Libretto kam, das auch nur halbwegs dem ähnelte, was ihm gedanklich vorschwebte. Sonnleithner legte ihm mit der Befreiungsoper »Leonore« ein in postrevolutionären Zeiten angepasstes Genre vor. Ihre angeblich wahre Geschichte, aufgeschrieben von Jean Nicolas Bouilly, war unmittelbar vor Beethoven schon dreimal vertont worden. Pizarro ist in ihr ein machtgieriger Jacobiner, er wird vom Minister des »besten Königs« mit Hilfe Leonores und ihres Gatten ertappt und aus dem Verkehr gezogen; das Ganze verlegt in ein bourbonisch fernes Spanien. Die Geheimpolizei Franz II. durfte zufrieden sein. Deutlicher als der die Zensur per künstlicher Einfalt unterlaufende Text von 1805 sagt die Musik an Spitzelohren vorbei am Ende, worum es geht: Um die Extrembewährung einer ehelichen Treue, die sich musikalisch in eine Treue zu hochfliegenden Idealen weitet, Ideen, deren politisch sozialer Inhalt bei genauerem Hinhören ganz im dunkeln bleibt.

Unbekannte Musiken

Mir fällt auf, ich nörgele, wann immer es um den »Fidelio« geht. Aber in Jacobs’ Neuaufnahme der Oper entdecke ich in einem mir vermeintlich geläufigen Stück nicht wenige mir bislang unbekannte Musiken; die mir bekannten Musiken, vielleicht noch erfreulicher, klingen miteins wie unbekannt. Beethovens einzige Oper, so wird mir klar, ist bei all ihrer Theaterschwäche von vorn bis hinten großartige, dramatische Musik. Das zweite, so nur in der Urfassung zusammengestellte, weniger auf ariose Höhepunkte denn auf einen allerdings recht kurzen pulsierenden Ablauf abzielende zweite Finale öffnet Opernneuland. In »Zur Rache«, der letzten, 15 Minuten langen Nummer der Urfassung, zieht der Tonsetzer alle Register, von hochdramatischen Orchesterpassagen über oratorisch beschwingte Vokalhymnen der Solisten und Chöre, ein neuartiges Ineinander von Accompagnato, Chor, Melodram und Gesangsensembles bis hin zum großen, von fern an die Ode der Neunten erinnernden Tutti, rhythmisch hier allerdings noch viel mitreißender gestaltet als in der Schiller-Vertonung. Die »deutsche Oper«, die in Beethovens »Leonore/Fidelio« in beeindruckenden Ansätzen entsteht, inspirierte Weber, Schumann, am Ende Wagner. Wirklich befreit wird in dieser erstaunlich deutschen Sorte Musikdrama nichts und niemand mehr. Sie ist ein musikalisch faszinierend ins Werk gesetztes Monument des nie eingelösten, den Schatten der Märkte nie entkommenen Freiheitsfiebers der deutschen Bourgeoisie.

Der Fassung von 1814 am genauesten auf der Spur: die Londoner Aufnahme von 1962 mit Otto Klemperer (Christa Ludwig, John Vickers, Otto Frick). Jacobs’ Neuaufnahme von Beethovens Urfassung, nicht weniger genau, aber mehr drauflos, wirkt dagegen wie eine andere, eine zweite Oper. Erfrischend, überraschend neu klingt, was René Jacobs mit Beethovens »Leonore« anstellt. Ein verheißungsvoller Auftakt fürs Jubeljahr. Käme bei der Gelegenheit mehr Beethoven dieser Art ans Licht, dürfte die Beethoven-Freundinnen-Schar sich schon jetzt herzhaft freuen. Junge Welt, Weihnachten 2019

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