All I have to do is dream.

Was soll ich sagen? A day in the life. Solche Tage gibt es. Im gleichnamigen Song gleicht John Lennon cool lustig bekifft die damals allerdings viel angenehmere Weltlage mit seinem Alltag ab. Um die sechzig Jahre später verfalle ich beim Auswählen der Musik, die ich an diesem hellen Wintermorgen meines Lebens beim Bettenmachen hören will, allerdings nicht auf Lennon. Ich verfalle dem Zufall und lande bei den Everly Brothers und ihrem allzeit guten Rat an alle: »All I Have to Do Is Dream«.

Natürlich könnte man sagen, das sei Quatsch. Und das wäre es sicher, wollte man diesen Song der zwei sympathischen Jungs aus Kentucky und Chicago, Illinois als Marketingimperativ hören für Konsumträumer. »All I Have to Do Is Dream« würde im Geist der Finanzwelt auch funktionieren, wollte man den Text als Ablenkungsmanöver verstehen. Das Träumen wäre dann gleichgesetzt mit einem Sich-Erschöpfen im untätig endlosen Sehnen nach dem Unerreichbaren. Der verliebte Bursche der Everly Brothers beleuchtet auch diese Frage. Sein einziges Problem, sagt er, sei, dass er fürchte, auf diese Weise sein Leben wegzuträumen.

Aber echt jetzt. Mir beim Bettenmachen, »All I Have to Do Is Dream« im Ohr, fallen solcherart Gedanken natürlich im Traum nicht ein, ich höre einfach nur zu. Dass ich im Februar 2021 über Songs aus den 1950er und 60er Jahren schreibe, weist, nebenbei gesagt, ohnehin auf mein vorgerücktes Alter. Solche Songs sagen Menschen meiner Jahrgänge naturgemäß etwas komplett anderes als Jüngeren, die sich eventuell auf Youtube aus Versehen zu Phänomenen wie den Everly Brothers verirrt haben.

Ich behaupte jetzt mal mit der ganzen Selbstgerechtigkeit meines Alters: Songs wie dieser werden bleiben. Sie sind echte Klassiker, sie haben die Gestimmtheit ihrer Epoche auf kongeniale Weise zusammengefasst und zukunftsfähig gemacht.

Ich war Zeitgenosse der Entstehung und – damals ganz neu – weltweiten Verbreitung solcher Songs. Ich will schnell einen zweiten hinzufügen: »He Ain’t Heavy, He’s My Brother« von The Hollies aus dem Vereinigten Königreich, er muss sich an Einprägsamkeit und Tiefenwirkung hinter dem etwas kleiner dimensionierten »All I Have to Do Is Dream« nicht verstecken.

In beiden Songs drückt sich der Zeitgeist ihrer Jahre aus, vielleicht auch für Jüngere heraushörbar: der in jeder Stimmungslage unbeschwerte Ton. Heute gehört, würde man ihn fast naiv nennen. Wer ihn begreifen will, muss sich nur die Lage auf dem Arbeitsmarkt in diesen Jahrzehnten anschauen, die Tarifabschlüsse, die Berichte über die gesellschaftsweiten Segnungen des Sozialstaats, als er noch einer war. Kein Wunder, dass es »Glatzen« oder »Neonaziszene« damals noch nicht einmal dem Wort nach gab.

Aber! Es gab zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine verhältnismäßig lange Periode mit einem sozialistischen Weltsystem. Dieses war, nachdem die Sowjetunion den Hitlerfaschismus besiegt hatte, stark genug, die Menschheit auf dem Weg zum Frieden zu halten. Wie immer eins den Realsozialismus bewertet, dieses sozialistische Weltsystem hat durch den sozialen Druck, den sein bloßes Vorhandensein auf den Westen ausübte, die tolle Stimmung in der Popkultur dieser Zeit, die Entstehung einer neuen globalen Jugendbewegung mit ihren Helden Elvis, James Dean, Bob Dylan, Ho Chi Minh, Che Guevara et al. und die materiellen Voraussetzungen für das alles überhaupt erst ermöglicht.

Die Welt, aus der sich die beiden Jungs aus Kentucky und Chicago in »All I Have to Do Is Dream« melden, ist die in den 1950er Jahren vielleicht gerade noch als heile Welt durchgehende US-amerikanische Kleinstadt. Thornton Wilder hat sie im damals vielgespielten Theaterstück »Our Town« verewigt; in »Mutter ist die Allerbeste« wurde sie uns in Serie in Schwarzweiß von Donna Reed als damals globales Way-of-life-Weltmodell verkauft.

Bestimmte Musiken haben die Eigenschaft, sich in der Seele als Soundtrack bestimmter Lebensmomente festzusetzen. Erklingt die Tonspur, läuft der Film dazu. Das Bett ist inzwischen gemacht, die Tagesdecke übergezogen. Ich trinke Tee, schaue in die Winterlandschaft vor dem Fenster und träume mich zurück in post­pubertäre Lebenstage. Die beiden Jungs aus Vereinigten Staaten, die längst versunken sind, erinnern mich daran, wie leicht es in diesen Zeiten war, »Ich liebe dich« zu sagen, auch wenn die Liebste noch gar nicht da war, und auf eine Zukunft zu vertrauen, so abgesichert, dass man sich kaum Gedanken darüber machen musste.

Wem Empathie gegeben war, der war, was die Liebe angeht, auf Terzenwolken gebettet – und hatte das Mädchen in seinen Armen wenigstens im Träumen, die Jungs mussten damals die Mädchen in den Armen halten, sie mussten »männlich« sein. Des Schutzes, den sie bieten sollten, waren sie freilich selbst kaum gewiss. Die Bedenkenlosigkeit, mit der sie und er sich füreinander entschieden, durfte grenzenlos sein. Eine Art Glück ereilte mich damals, von dem ich sechzig Jahre später ahne, dass ich es so richtig erst jetzt ermessen kann.

Solche Musik verführt zu Illusionen. Aber warum nicht? Was können unsere Träume dafür, dass eine traumatische Wirklichkeit sie zur Illusion werden lässt? Ohne die Träume von einer besseren Welt wird es keine bessere Welt geben. Ohne die großen Gedanken und Taten, welche die Träume, wenn die Zeit reif ist, wieder ein Stück brauchbarer mit der Realität vertakten, geht es natürlich ebensowenig. Träume sind auch Gedanken. Sie haben nur eine ganz eigentümliche Energie. Sind wir da gelegentlich ein wenig zu streng mit uns selbst?

In »He Ain’t Heavy, He’s My ­Brother« geht es ins Große. Die kleine Stadt in dem monströsen transatlantischen Staatenbund bleibt zurück. Der Blick nicht des schlechtesten Teils meiner Generation hat sich seit dem Vietnamkrieg epochal geweitet. Der da singt von einem, der gewiss schwer ist, aber eben ein Bruder, trägt, so singt er, eine Verantwortung, aber keine Last. Wenn etwas ihn belaste, dann die Traurigkeit darüber, dass noch nicht alle das Glück kennen, für die anderen da zu sein. Er trägt den anderen im Bewusstsein, dass das Schicksal der anderen, Weiblein wie Männlein, auch ihn betrifft. Er fühlt sich stark, weil er weiß, das geht den andern nicht anders. Dass »He Ain’t Heavy, He’s My Brother« auf seine Art ein großes Solidaritätslied ist, hat in meiner Schulklasse damals auch jene bewegt, die in Englisch nicht so gut waren. Der Song war ein Welthit. Seine Botschaft ist es noch immer. A day in the life. Musik beim Bettenmachen. Was die Betätigung der Randomtaste mitunter für Folgen haben kann! Junge Welt, Februar 2021

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