PRINTTEXTE / POLITIK, KUNST, KULTUR

BELLA CIAO.MITTWOCHS IN DER EINKAUFSZONE (2023)

WE’RE NOT THE ONLY ONES.WAGENKNECHT/SCHWARZER.BERLIN 2023.

OH, JEREMY CORBYN – DIE GROßE LÜGE (2023)

NADELÖHR ZEITENWENDE (2023)

RUDIS FRIEDEN (2023)

PUTIN WALDAI (2022)

TRÄUMEREIEN (2022)

FAZ.PARTEITAG IN BEIJING.WELTLAGE (2022)

ROTE LINIEN (VAN) (2022)

RUDI HURZLMEIER WIRD 70 (2022)

DER GANG.EINE WAHRE GESCHICHTE (2022)

UNS UWE (2022)

CHROMATISCHES WETTER (2022)

STRAßENFEST ST. GEORG (2022)

VERGLEICHgedicht (2022)

KATHARINA JACOB.UNSERE HEILIGEN (2022)

HALBFINALE.BABYN JAR (2022)

UKRAINE UND AUGUST 1914 (2022)

WASSERSCHADEN (2022)

DER GROßE SCHWINDEL (2022)

BEDÜRFNIS NACH KLARHEIT.HERR PUTIN UND ICH (2022)

UKRAINE ÜBERALL (2022)

WIR HABEN EIN E-AUTO  (2021) 

EIN JAHR F. W. BERNSTEIN (2020)

WAS AUF EINMAL FEHLT.COVID-19 (2020)

F.W.BERNSTEIN.MARIÄ SCHNEE (2020)

SCHWARZER KANAL.CHINA DURCHSCHAUT.BRIEGLEB (Dezember 2019).

PRINTTEXTE / MUSIK

682 – ORAKELMASCHINE.HEINER GOEBBELS (2023)

CONLAN NANCARROW.MASCHINENMUSIK (2023)

ENSEMBLE RESONANZ.SAISONVORSCHAU 2023/24 (2023)

ZWEIERLEI GOLDBERG VARIATIONEN.LANG LANG.ANDREAS STAIER (2023)

HEILIGE UND HURE (2023)

EIN SCHUMANN AUS WEIMAR. KLAHN/KATTE/STIMMEL

HAYDN UND MOZART (2022)

LITTLE RICHARD AT MUHAMMAD ALIS PARTY (2022)

CURRENTZIS’ UKRAINE-SPAGAT (2022)

SAISONSTART 2022/23.ENSEMBLE RESONANCE (2022)

STEINS VIS-Á-VIS.MOZART UND BACH (2022).

MOZART.ORGELWERKE (2022)

FREISCHÜTZ.JACOBS (2022)

DER TON MACHT DIE MUSIK.FAUST/MELNIKOV.KREUTZERSONATE (2022)

HERBERT BLOMSTEDT.SCHUBERT.GROßE C-DUR SINFONIE(2022).

HEINER GOEBBELS. A HOUSE OF CALL (2021)

JÜRGEN KESTING VERZWEIFELT AM DON GIOVANNI (2021)

ALFRED BRENDEL U PETER GÜLKE TAUSCHEN SICH AUS (2021)

RENÉ JACOBS.BEETHOVEN MISSA.FBO (2021)

ALL I HAVE TO DO IS DREAM (2021)

PETER GÜLKE ÜBER BEETHOVEN UND DAS REVOLUTIONÄRE (2020)WINTER (2021)

PETER GÜLKE ÜBER DDR, MUSIK UND POLITIK(2020)

CURRENTZIS.LACHENMANN.BIBER.SCELSI (9.2020)

ANDANTE FAVORI.BEETHOVENS GROßE LIEBE (9.2020)

DAS HIMMLISCHE KIND (2020)

SCHUMANN.FAUS-SZENEN.GERHAHER.NDR SO.HENGELBROCK (2020)

BRACHMANN.FAZ.SOKOLOV70.(2020)

LAUTER SPIELEN.GESCHICHTE DES KLAVIERS (2019)

AB JETZT WEHT EIN ANDERER WIND.RENÉ JACOBS’ UR-LEONORE (Dezember 2019)

BEETHOVEN.UNVOLLENDETE (Dezember 2019)

BRAHMS’ BETT (Baden-Baden, Oktober 2019)

INTERVIEW MIT ANDREW MANZE (8.2019)

ELVIRA SEIWERT.DIE MUSIK IM ZEITALTER IHRER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT (INTERVIEW 2019).

MOZART.ROMANTIK.BRACHMANN.FAZ (2019).

INTERNATIONAL.YILDIRIM.AKYOL (2019)

GEORGE BENJAMIN IN DER ELBPHILHARMONIE (2019)

SAISONERÖFFNUNG.POLITIK AUF DER  ELPHI-BÜHNE

PETRENKOS EINSTAND. (2018)

MAN MUSS NIE ETWAS MACHEN.ANNER BIJLSMA(PORTRÄT 2017)

KLASSIK.KINDER.

APERGHIS.MIGRANTS. (2018)

MELNIKOV (INTERVIEW).

WEIHNACHTSLIEDER.

ELBPHILHARMONIE.AKUSTIKPRÜFUNGEN.

STAIER (INTERVIEW. (2017).

ELLY NEY. NICHT DIE EINZIGE (2017)

FAZ.BRACHMANN.MOZART (2017).

SCHUMANN.FAUST-SZENEN.GERHAHER.NDR ORCHESTER.

WAGNER IN BOCHUM.JOHANN SIMONS’ “RHEINGOLD” (2015)

PREMIERENGEFÜHLE.ENSEMBLE RESONANZ MIT GLUCK AN DER STAATSOPER.

CURRENTZIS IN PERM. (2014)

BRACHMANN.ROLL BACK CURRENTZIS (2013).

862 – Orakelmaschine.Heiner Goebbels Völklingen (2023)

No 862 © HG

Schon der Titel. Ein Anlass zur Verwirrung, selbst die Fachwelt rätselte: »862 – eine Orakelmaschine«. Was soll die Zahl, wie kann eine Maschine orakeln? Klar, der Urheber Heiner Goebbels misstraut dem Eindeutigen, Rätsel sind ihm sympathisch. Ihm geht es wie Hegel in seiner Ästhetik: »Was wir als Gegenstand durch die Kunst oder das Denken so vollständig vor unserem sinnlichen oder geistigen Auge haben, dass der Gehalt erschöpft, dass alles heraus ist, und nichts Dunkles und Innerliches mehr übrig bleibt, daran verschwindet das absolute Interesse.«

Am ersten Septemberwochenende hatte die Orakelmaschine Premiere. »Weltpremiere« kann man nicht sagen. Das Stück ist allein aus der Beschaffenheit und der Aura des Orts entstanden, der Goebbels zu dieser Arbeit inspirierte. Darum kann es einzig im Zusammenhang der Kohlenstampfmaschine der Völklinger Hütte aufgeführt werden. Bis 1987 wurde hier Roheisen hergestellt; seit 1994 als letztes erhaltenes Denkmal dieser Art Metallurgie ist sie Teil des Weltkulturerbes der UNESCO. Mit seinem weithin sichtbaren Hochofen wird das Völklinger Weltkulturerbe am kommenden als dem letzten von drei Wochenenden die letzten drei von neun Vorstellungen des Spektakels um die Kohlenstampfmaschine präsentieren.

Es war Heiner Goebbels offenbar wichtig, sein Publikum vorweg mit dem Areal bekannt zu machen. Es geht folglich mit einer »Proménade architecturale« los, mit dem einleitenden Gang durch eine Geschichte, die in Gestalt der Völklinger Hütte wie begraben ist, aber nicht tot.

Im werdenden Dunkel schlängelt sich eine Karawane von rund 130 Gestalten des Premierenabends in leichter Outdoorbekleidung durchs industrielle Gräberdenkmal. Überall von grüner Natur überwucherte Eisen- und Stahlgerippe; Metallkessel, dick verschraubt, halb unter Haselzweigen, erstarrt unter dickem Rost; dachlose Backsteinruinen, zersprungene Scheiben, Wassertümpel, rostige Leitern zu Plattformen, auf denen sich leere Handräder gen Himmel recken.

Die Magie scheintoter Geschichte lebt von Anfang an auch direkt am Spielort. Hochhausgroß ragt dort der Kasten mit der Weltkulturerbeinventarnummer 862 aus der Vegetation; das Rätsel der drei Ziffern ist mithin keines mehr. Seine im Dunkel liegenden unteren Teile dienen als Bühne, als Verwandlungsort sowie mit allem anderen auch als Projektionsfläche. Wie schon öfter in Goebbels’ Stücken ist fürs Publikum kein Übergang von der Bühne zum Raum erkennbar. Die Leute sitzen auf einer Tribüne etwa hundert Meter vom performativen Geschehen, aber eben nicht von ihm »entfernt«; man fühlt sich mittendrin, denn das »Theater«, der »Konzertraum« geht bis an den Horizont. An beiden Seiten ragt scharf beleuchtet oder als Silhouette schwarzer Blätter dichtes Buschwerk auf. Rechts vom Kasten zeigt eine Eisenbrücke schräg in die Luft. Zusammen mit einer langen Trasse, die lehmig glänzend mittig von der Tribüne bis zur Maschine führt, ergibt sich eine Andeutung von Zentralperspektive.

Eine heimelig analoge Glocke läutet dreimal. Blackout. Spannungsgeladenes Warten. Die zentral im Hintergrund des Bildes stehende Maschine lässt aus dem Dunkel ihres schwarzen Schweigens – wie der Drache des Besitzes in Wagners »Ring« – erst leise, dann immer lauter, metallisch kurze, aggressive Laute und Klänge hören. Wasserdampfwölkchen und Trockeneisnebel bilden sich. Eine Dampfspritze zischt aggressiv dazwischen. Im Tröpfchenregen schnarrt eine Metallsaite kreissägenartig. Amüsiert nimmt man in Abständen aus den in den Büschen rundum verteilten Lautsprechern die Töne aus den Kehlchen diverser Singvögel wahr, die Schreie von Möwen, Krähen, das Gurren von Tauben, das Summen von Bienen, das Heulen von Hunden, von Wölfen. Rhythmen diffundieren Entdeckungen, sie stellen sich durchgehend ungewollt ein, sind zugleich hochwillkommen. Goebbels’ Samples lassen sich als Pressluftbohrer hören, als Kriegskrach, als was immer – der Zufall komponiert mit. Erst in der Phantasie der Menschen auf der Tribüne vollendet sich das Kunstwerk im Bewusstsein von rund hundertdreißig Kunstfreundinnen.

Goebbels ist ein Daniel Düsentrieb immer anderer Resonanzen von Klang, Geräusch, Musik und Sprache, im wechselnden Licht wechselnder Orte und Bilder durchlebter Räume. Sie sind grenzenlos. Denn – Klangbild, Farbharmonie – was in der Sprache längst angelegt ist, erfüllt sich in dieser Art Kunst: Die Ohren lernen zu sehen, die Augen sperren die Ohren auf.

Ein Stück ohne sichtbare Performer. Die Musiktheatermaschinisten von »862« arbeiten an diesem Abend unsichtbar im Hintergrund an Dampfhebeln und Videogeräten (René Liebert), an Lichtdesigncomputern (Marc Thein), an Zuspielgeräten für Vogel- und Menschenstimmen, für komponierte Musik und perkussive Klänge und Geräusche (Willi Bopp). Ein Zeitalter lebt auf, das draußen im Gelände als endgültig untergegangen zu erleben war. In der Kunst wiederersteht die Wirklichkeit der Völklinger Hütte. Wie war die Arbeit darin, was hat sie angerichtet in ihrer Stadt und in der Welt, seit sie in der Zeit der großen Gründerkrise 1873 fertiggebaut wurde? Wie stand sie da, als es noch den Kaiser gab, den Hindenburg, den Hitler, den Adenauer?

Das weitere Rätsel für Außenstehende: Warum hieß dieses magisch in Kunst zum Leben erwachte Riesentrum von einer Kohlenstampfmaschine bei jenen, die lange Zeiten darin schuften mussten, »Paradies«? Soweit herauszufinden war: Dieses Paradies galt unter den Arbeitern als eine Art noch nicht ganz so heißer Vorhölle im Vergleich zur sich anschließenden Hölle der Kokerei, in der die gestampften Kohlepakete auf ihren Schmelzpunkt bei 1.200 Grad Celsius erhitzt und zu Koks verbacken wurden.Verräterisch redundant weist ein gehöriger Teil des Feuilletons immer wieder auf Heiner Goebbels’ erklärte Aversion gegen die Einbahnstraßen des Denkens hin. Goebbels biete keine Lösungen, loben sie, keine echten Alternativen oder andere Illusionen, bravo. Daran ist richtig, dass Goebbels zu fragen wünscht, nicht zu antworten, er will ohne Gitter und Geländer denken. Allerdings, die erklärte Offenheit Goebbelscher Kunst schließt das Schweifen des Geists auch in geschichtlichen Räumen nicht aus, nicht das Stöbern auch in den sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Diese Art Konsequenz der Freiheit des Denkens mag sich das bürgerliche Feuilleton nun aber so gar nicht zugestehen. Sagen wir also: Heiner Goebbels hat der in der Kohlenstampfmaschine 862 von ihm erneut lebendig gemachten Industriewirklichkeit des imperialistischen Kapitalismus nicht zu knapp Hinweise beigegeben, auch für den um Dialektik bemühten Blick auf weitergehende Zusammenhänge.

Die über das ganze Stück verteilten Stimmen aus historischen Aufnahmen welt- und zeitferner Ethnien mögen in diesem Sinn als Botschaften aus der Natur erscheinen, als Nachrichten aus dem Äther vergangener Zeitgeschichte und fremder Welten. Sagen wir also: Die Stimmen könnten die Leute auf der Tribüne ans Elend, an die Millionen Toten und an die Not erinnern, die das Völklinger Roheisen wegen der weiterverarbeitenden Industrie über die Völker gebracht hat. Zu hören wären da grob gerechnet also die Stimmen der Opfer kolonialistischer Räuberei.

Naturbezug auch in der Art, wie die Blätterkulisse der »Orakelmaschine« lichtinszeniert ist. Ein Höhepunkt die Stelle, an der die Projektionen auf diverse Teile der Kohlenstampfmaschine in ein – hier endlich einmal dramaturgisch sinnvoll eingesetztes – Video übergehen: Unten im Dunkel des Maschinensockels entsteht in Lichtrechtecken, die als erleuchtete Hüttenfenster zu deuten wären, eine Ahnung von denen, deren Arbeit diesem Ort seine Bedeutung verlieh. Derweil oben auf der vollen Fläche des Maschinenkastens ein Videomeer von im selben Wind flutendem – vom selben Kaltlicht wie die realen Blätter an den Seiten angestrahlten – grünen Blattwerk wogt. Ein technisch perfekt hergerichtetes Blickfeld. Der Triumph der Natur, im Moment überwältigend, es stellen sich Verbindungen her, die schwindelig machen.

Nachdenkliches dazu. Der Klang der Stimme Hannah Arendts mit Brecht: »Wir brauchen keinen Hurrikan, wir brauchen keinen Taifun / Denn was er an Schrecken tun kann, das können wir selber tun.« Oder Heiner Müllers poetische Dystopie »Maelstromsüdpol« und Helmut Heißenbüttels Stimme, die zu Distanz zum Wort und seinen Bedeutungen mahnt, zu kritischem Abwägen, zum langen Sich-Öffnen statt zum schnellen Urteil. Immer wieder eingeschoben schalten sich die Stimmen ein, unmerklich begleitet, unterstrichen, in Frage gestellt von Goebbels’ Samples (am präparierten Klavier auch als Musiker dabei: der Komponist).

Goebbeles’ Musik ist auf eine Weise sie selbst, die, soweit erkennbar, noch keinen Namen hat. Darin scheint wie in einer Art Kunstkokerei bei 1.200 Grad alles mit allem zu verschmelzen. Eine Musik latenter oder unberechenbar offener Entladungen, stets fraglicher Dauer, schier unendlichen Zurruhekommens. Kaum hat sich etwas eingesenkt, wird es von etwas Neuem überblendet. Ein Angebot, Hermeneutik spielerisch hinter sich zu lassen – indes, als etwas hinter sich zu lassen, was man schon einmal vor sich gehabt hat – la fantaisie au pouvoir!

Goebbels Kunst der Verschmelzung und Osmose verführt gelegentlich dazu, Mimetisches zu erkennen. Nicht dass er etwas den Sinnen Zugängliches gestaltgetreu in Töne übersetzte, Töne wie etwa die des Kuckucks in Beethovens 6. Sinfonie. Die Autonomie der Kunst Goebbels’ erfüllt sich, indem die arbeitende Phantasie das materiell Vorhandene in etwas umformt, für das die Formulierung »der Wirklichkeit ähnelnd« nur eine unter vielen Möglichkeiten wäre. So etwas hat Goebbels mit Hilfe seines kongenialen Saxophonisten Alfred Harth schon im Programm »Eislermaterial« vorgeführt. Auf Eislers Vertonung von Brechts »Die haltbare Graugans« spielt Harth eine Improvisation im gefühlt authentischen Idiom der zoologischen Graugans; solch Mimesis macht Spaß, ohne dass einem die ganze Kunst der dabei aufgewandten musikalischen Erfindung entgeht.Da »komponiert« einer entlang der fließenden Ränder der Genres und Aggregatzustände ein elementares Welttheater aus Vorgängen und Zuständen für Auge und Ohr, für die Haut, die Nase – und fürs Hirn. Resonanz und Transformation sind zwei Goebbelssche Schlüsselbegriffe fürs Verhältnis von Klang und Inhalt zugespielter Stimmen oder fürs empathische Zusammenstimmen aller Dinge rund um und auf Heiner Goebbels’ Völklinger Weltbühne vom September 2023.

»862 – Orakelmaschine« wirkt wie eine Weiterentwicklung, wie die erste Pleinairanwendung des Konzepts von Goebbels’ vorletzter Arbeit »Stifters Dinge« (2012), ein Werk, das rund um die Welt einige hundertmal in Spielstätten aufgeführt wurde, die Platz bieten für den Aufbau einer Theater- und Musikmaschinerie mit vier übereinander geschraubten mechanischen Klavieren, drei Wasserbecken, mit genügend Raum auch fürs Publikum. Goebbels verwandelt sich den Orten an. Er bedient sich dieser Orte; er wühlt sich in ihre Aura, in ihre Geschichte hinein und erschafft darin – ihre Wirklichkeiten unterwandernd – »Räume der Imagination«, ein Lieblingswort des Künstlers Goebbels.

Zeitlich und inhaltlich zentral läuft plötzlich, sich perspektivisch verengend, von vorn nach hinten, Weiß auf Schwarz, ein Text über die Trasse vor der Tribüne auf die Kohlenstampfmaschine zu. Simultan zu hören die Stimme der Autorin, ein Interview mit Marguerite Duras. Indirekt auch ein Interview mit der Orakelmaschine, dem zweiten Rätsel des Stücktitels. Im Einführungstext heißt es, vielleicht ein wenig gewaltsam vergleichend, ihr »ursprüngliche(r) Zweck habe darin bestanden, Antworten zu formen auf den hohen Energiebedarf einer von Ausbeutung und Fortschrittsglauben getriebenen Gesellschaft«.

Nun orakelt, sparsam begleitet von Goebbels’ Samples, die französische Schriftstellerin auf die Frage, wo künftig (das Interview fand im Herbst 1985 statt) die Antworten sein würden: Es werde nichts anderes mehr geben als Antworten (die Orakelmaschine wäre auf diesem Weg, wenn nicht enträtselt, so doch verständlicher geworden). »Im Grunde werden alle Texte Antworten sein«, fährt Duras fort. »Ich glaube, dass der Mensch buchstäblich in Informationen ertrinken wird. Das ist nicht weit von einem Alptraum entfernt.« Es werde niemanden mehr geben, der liest, klagt sie melancholisch – »überall werden Monitore hängen« (alle werden fernsehen, vom Arbeitsplatz bis in die Verkehrsmittel, vom Klo bis zum Abendbrottisch und Schlafzimmer). Ein gutes Alleinsein gäbe es nicht mehr. Die Zeit sei kein Ort mehr zum Verweilen und Besinnen, sie sei nur noch Maß der Schnelligkeit, mit der global möglichst das Maximum ans nächste Maximum gehechelt wird. Solche Gedanken über die intellektuell gelassen ertragene Barbarei marktradikaler Ökonomie laufen an diesem Abend über den Weg. Die Menschheit ist dieser Barbarei in den seither vergangenen Jahrzehnten ein beunruhigend gutes Stück nähergekommen.

Der Lauftext verschwindet, Zeile für Zeile gelesen, im fernen Dunkel. Da dämpfen Trockeneisnebelwolken die Luft, die weiße Schrift, projiziert in die weißgräulichen Wolken, wird brüchig, sie verblasst und erscheint wieder, sie verhaucht. Ein poetischer Effekt spontan kalkulierter Allegorik des Chef de l’imagination dieser Aufführung.

Da scheint nun auch in der Sphäre der schönen Künste etwas im Gange. In den Wissenschaften schon lange, vorneweg in der Biologie tummeln sich immer mehr Disziplinen mit freudig zu begießenden Ergebnissen in den Beeten der anderen. Heiner Goebbels’ Arbeit gibt Anlass zur Vermutung, dass es vielleicht nun auch mal in den Beeten der noch immer überwiegend sorglich getrennten Kunstgattungen losgeht.

Goebbels, der gern davon erzählt, wie er staunend, immer auf der Suche nach Wundern für seine Kunst, an den Küsten Tasmaniens oder Patagoniens gestanden hat, ist darüber als Künstler zum Ethnologen geworden, ein Soziologe und Linguist war er schon, wer weiß, wohin es ihn noch treibt? Er hat sich einer recht neuen Art Kontrapunkt, einer neuen Polyphonie aller Künste verschrieben.

Eine Polyphonie der Wirklichkeiten. In dem einem eisenstarrenden Urgebüsch gleichenden Friedhofsgarten des untergegangenen Indus­triezeitalters lässt Goebbels, gefiltert durch die Gegenwart der Aufführung, Extrakte der Wirklichkeiten dieses Zeitalters in etwas – auf andere Art lebendig Geistigem – wiedererstehen, als Kunst. Die Welt wird buchstäblich zum Theater, das Theater ist die Welt. Die Gegenwart der Welt im August 2023 ist freilich so düster wie an diesem Abend der Himmel über Völklingen. Das Zeitalter der Industrie ging unter. Sein menschheitsverachtender Egoismus freilich hat digital prächtig überlebt, so könnte man Marguerite Duras und mit ihr Heiner Goebbels verstehen, soweit die dunkle Seite von »862«.

Goebbels bietet in der Denkmaschine seiner Schöpfungen allerdings immer auch ein gewichtiges Quentchen an Positivem. Schon in seiner Art Blick auf die Natur, deren Schönheit er in der grünen Blätterflut jenes Videos feiert, ist, bestätigt durchs überwuchernde Grün ringsum, das Positive angelegt. Auch in einigen der Bilder unten im schwarzen Sockel der Kohlenstampfmaschine: mitunter ein Hauch biedermeierlich naiver Idylle einer irgendwann lebendigen Zeit, nun nur angedeutet in erleuchteten Fenstervierecken einer imaginierten Behausung, vielleicht eine Eisenwerkstatt. Oder der Friede einer Hütte im Krieg der Paläste? Schließlich wird auch im gesprochenen Singsang, den gesungenen Sätzen der zugespielten Stimmen aus der Ferne – auch die im Saarland Kolonisierten mögen dazugehören – eine Kraft laut, in der Hoffnung wohnt.

Aber natürlich, all dies könnte irgendwen auch auf ganz andere plausible Gedanken bringen, es läge in Richtung der Absichten des Künstlers Goebbels. Was ihm missfiele: Wenn die Leute über die erhellenden Überlegungen in ihren Köpfen das sinnlich integrale Erleben der Aufführung vergäßen, die Musik vergäßen, die Geräusche, die Klänge, auch die Lichter auf den Wassertröpfchen und auf den Blättern, den Geruch der Außenwelt im Dunkeln. Heiner Goebbels begreift den Menschen anthropologisch und historisch konkret. Am Ende treten die bis dahin als Schatten hinter Fenstern nur zu Ahnenden in Erscheinung. Wie im Ausklang der konventionellen Open-Air-Vorstellung eines romantischen Theaterklassikers verlassen junge Menschen in biedermeierlicher Kleidung – ein kleiner Chor mit Friedrich Silchers volkstümlichem, von Chamisso gedichteten Lied »Frisch gesungen« auf den Lippen – seitlich das Sockelhäuschen, spazieren am Gebüsch vorbei auf die Tribüne zu, ein Fahrrad mit Licht gondelt an ihrer Seite, sie gehen unbekümmert durch die Büsche ab. »Ein wehmütig-optimistisches Schlusstableau«, so Wolfgang Sandner in der FAZ, »unwirklich zugleich«.

»Freigeist« – die mediale Öffentlichkeit von 2023 in den Knochen, erkennt man den schönen Begriff wehmütig-pessimistisch nur noch als Ingredienz einer versunkenen Welt. In Goebbels ist sie noch einmal lebendig. Er mag nicht Partei sein, denn er verzichtet ungern auf jene, die meinen, einer anderen Partei anzugehören. Aber er gibt auf seine Art keine Ruhe. Er ist kein Auf-, er ist ein Anrührer. Er rührt etwas in den Menschen an, die ihm zuhören. Ein neugieriger Gärtner, liebt er es, dem Wachsen zuzusehen, er liebt Offenheit und Überraschungen. Wie jeder echte Gärtner und Freigeist zögert er. Und gibt am Ende die Hoffnung nicht auf. Schon im zentralen Lauftext von »862 – Orakelmaschine« endete Marguerite Duras’ Beschreibung marktradikaler Barbarei in der gedämpften Fanfare eines sehr schönen Credos: »Ich erinnere mich, dass ich etwas gelesen habe, in einem Buch eines deutschen Autors aus der Zwischenkriegszeit. Es hatte den Titel ›Der letzte Zivilist‹ von Ernst Glaeser. Dort habe ich gelesen, dass, wenn die Freiheit die Welt verlassen hat, immer noch ein Mensch übrigbleiben würde, um von ihr zu träumen. Das glaube ich. Ich glaube sogar, dass es schon begonnen hat.« junge Welt, September 2023

PRINTTEXTE / MUSIK

Conlan Nancarrow.Maschinenmusik.

Es war Frühling 2004. Geörgy Ligeti hatte aus irgendeiner Laune heraus meiner Interviewanfrage stattgegeben. Ihm gegenüber in einem Zimmer der American Academy am Wannsee ich, in Händen ein rundfunktaugliches Mikro, im Kopf die Frage an einen, schon zu Lebzeiten Bedeutenden: Wozu, Herr Ligeti, braucht die Menschheit so etwas wie die Kunst? Im leise brüchigem Dunkelton antwortete der alte Mann mit einer erlesenen Cuvée aus jüdisch-transsilvanischem Charme und Spaß an der Düperie, er sagte: „Die Menschheit braucht so etwas nicht“.

 Die Mitschrift des ziemlich langen Gesprächs enthält einen anderen bedeutsamen Punkt: Ligetis Begründung für so viel Pessimismus. Der Renaissance-Komponist Gesualdo zum Beispiel, so Ligti, hat es auf 600 Jahre gebracht, bis die Menschheit seine Leistung zur Kenntnis nahm. Drei der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, legt Ligeti nach, sei weltweit bis dato nur einem promillegroßen Kreis von Insidern bekannt: die Russin Galina Ustvolskaja, der Kanadier Claude Vivier und ganz besonders der US-Amerikaner Conlan Nancarrow (1912-1997).

Geboren in Arkansas, ein Staatsgebilde im wörtlich tiefsten Süden der Vereinigten Staaten, verschlug es Nancarrow 1937 nach Spanien, der, wie er später erkannte, vergebliche Ort für Yankees, die es ehrlich mit Freiheit, Menschenrechten und Democracy meinten. Wieder in der Heimat, entzog er sich den Democracy-Spezialisten von McCarthy, FBI und Co durch das Exil in Mexiko City. Als er starb, galt er als „mexikanischer Komponist amerikanischer Abstammung“ (Wikipedia).

Was Nancarrow der Entwicklung einer vom kulturkolonialen Blick unberührten Weltmusik hinzugetan hat: Er ist zurückgegangen bis tief in die Musik dessen, was während der US-amerikanischen Völkermorde an den Indigenen des Kontinents musikalisch entstand. Kleinbäuerlich siedlerische Illusionen in vielerlei europäischen Sprachen und Kulturen, über geraubte Menschen der große Einfluss afrikanischer Kultur, großflächige Investitionslaune auch im Musikgeschäft. Er hat neben der US-amerikanischen auch die Folklore und die moderne Metropolenraserei seiner zweiten Heimat Mexiko City als Klanggehalt für seine Studien genutzt.

Conlan Nancarrow war ein Linker, der die Kunst, wie sie sich aus seiner Arbeit entwickelt hatte, den Unterdrückten der Welt nicht unmittelbar zur Verfügung stellte. Er rebellierte gegen das Kolonial- und Patriarchalsystem des Westens auf eine für Kunst und Künstlerinnen typische Weise: Er stellte – siehe Billy Holliday, Glenn Gould, Nikolaus Harnoncourt, Mathew Parker – mit seiner Idee von Musik die affirmativ einseitigen Denk- und Handlungsmuster der freien Welt infrage, er öffnete sie.

Ligeti blieb nicht der einzige, dem zu Nancarrows Opus summum, den Studies for Player Piano, das Wohltemperierte Klavier einfiel. In Bachs Springbrunnen der Mehrstimmigkeit sprudelt aus uralter Quelle etwas zuvor nicht Dagewesenes: der simple Kanon wächst sich zu neuer Beweglichkeit im Verhältnis der Einzelstimmen zueinander aus, die Beziehungen der Töne, harmonisch und rhythmisch, werden immer reicher, immer elaborierter – er knüpft dabei an Volksweisen und Tänze an, an die noch in den gewagtesten Neuerungen erinnert zu werden, bis heute viel zum Spaß an der Avantgarde beisteuert. Es muss den Zuhörern Bachs, die mit den bei Bach erklingenden Quodlibets, Allemandes, Sarabandes oder Gigues vertraut waren, gegangen sein, wie den Hörerinnen knapp drei Jahrhunderte später: wer immer die ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts entstehenden Studies hörte, wird in ihrer radikalen Neuheit auf neben viel freier Motivik überall Blues-, Boogie-Woogie-, mexikanische oder Jazz-Wendungen gestoßen sein.

Bei Bach wurde aus dem einfachen Kanon ein luftig dynamischer Überbau aus komplizierten Fugen, im Sinn dabei die kontrapunktisch spannungsgeladene Bewegungsweise vieler, aufeinander bezogener Töne. Ligeti dachte dieselbe Polyphonie weiter, indem er allem nachging, was entsteht, wenn man die Zahl der Tonverzweigungen auf eine kaum noch zu realisierende Spitze treibt; seine „Mikropolyphonie“ mit ihrer Unzahl an geteilten Stimmen erzeugte den seltsam schönen Eindruck räumlich gehörter Farben. Nancarrow schließlich interessierte an der Polyphonie – statt ihrer linearen und sonstigen – mehr die zeitlichen Verzweigungen vieler Töne. Er erforschte sein Leben lang, was geschieht, wenn eins komponierend mehrere auf neue Weise verschiedene Schichten eines Tonkörpers übereinanderlegt. Weder Tonhöhe noch Anzahl oder Differenziertheit der Stimmen spielen in diesen Schichten die Hauptrolle. Die spielt das Zeitverhältnis der Töne – Takt, Rhythmus, Tempo, Metrum – untereinander; sie sind auf lange Strecken sowohl hinsichtlich ihrer Bewegung in der Zeit als auch harmonisch und in der emotiven Getöntheit unterschiedlich gehalten ­– erklingen aber simultan. Nancarrow testet auf diese Weise, wie sich die verschiedenen Erscheinungsformen der Zeit in den Partiturschichten einer Musik zueinander verhalten können. Er erforscht, was entsteht, wenn man die Probleme, die sich damit innerhalb der Partitur ergeben, zum Ausgangspunkt einer ungemein neuen Sorte Musik macht.

Er hatte mit dem, was er mit der Polyphonie anzustellen gedachte, von Anbeginn ein Problem: die Musiker. Zur ersten Probe seiner ersten Uraufführung mit dem Septett für Streicher, Bläser und Klavier 1940 „kamen vier Musiker“, erinnerte er sich. „Zur zweiten Probe waren es drei, bis auf einen aber andere. Am Abend der Uraufführung im Konzert saß ein einziger Musiker auf dem Podium, der alle Proben mitgemacht hatte; es waren großartige Musiker aus New York, aber sie hatten in kürzester Zeit den Faden verloren, ein Debakel.“ Seine Lösung: Emanzipation des Komponisten vom Interpreten.

Bachs, Mozarts und anderer Tonsetzer Methode, die Interpreten loszuwerden, hatte in der Identität von Komponist und Interpret gelegen, sie komponierten viele Werke für sich selbst. Oft, etwa wenn es sich um „Fantasien“ handelte, wurden auf diese Weise Produktion und Reproduktion eins, damit war ein großes Problem der Musik gelöst, sogar optimal gelöst, denn zur Zeit Bachs und Mozarts waren die meisten Spitzenkomponisten auch Spitzensolisten.

Die zweite Möglichkeit, mit der sich die Komponistinnen und Komponisten ihrer Interpretinnen und Interpreten entledigten: sie wandten sich schon früh automatisch abspielbarer Musik zu. So hat Mozart im Ende seines Schaffens Werke wie sein Stück „für ein Orgelwerk in einer Uhr KV 594“ komponiert; ein mit dem Instrument gekoppelter Apparat konnte eine entsprechend präparierte Metallmatritze lesen und maschinell in Orgellaute übersetzen. Mechanisierung vormals manueller Fertigkeiten hatte schon in den Spieluhren des Barock die Möglichkeit geboten, eine bestimmte musikalische Abfolge von Tönen in immer derselben Anmutung beliebig oft zu hören.

Noch in der Kindheit des Autors gab es auf allen Rummelplätzen viele Karussells, deren verschiedene Musiken von Orgelmaschinen kamen und sich miteinander und mit einem Vielerlei von Popmusik mischten wie das Geschehen in den Stimmschichten Nancarrows. Alles scheint da durcheinanderzufliegen in eine Freiheit, die möglicherweise Späteren besser begreiflich sein wird. Auch die Entwicklung des europäischen Klavierbaus ist eine Abfolge von Mechanisierungen vormals körperlich vollzogener Abläufe. Dabei verloren geht die, mit Walter Benjamin zu sprechen, Aura des flüchtig unwiederholbaren Moments; in ihm entfaltet sich der Istzustand der empfindsamen Nerven einer Musikerseele ungefiltert – wie gut, ja unverzichtbar, dass es diese Art, Musik erklingen zu lassen, immer auch geben wird. Sie gehört wie die Maschinenmusik in die Anthropologie der Musik.

Das Verhältnis des Menschen zur Maschine ist im Zusammenhang der beiden Buchstaben “K” und “I” anno 2023 schwer im Gerede. Maschinenstürmerische Ängste und Reflexe auf allen Seiten. Die Furcht vorm Verlust von Hegemonie und Kontrolle menschlichen Denkens und Handelns ist groß. Aber der Roboter Hal aus Stanley Kubricks „Odyssee im Weltenraum“ verwandelt sich, wenn er sich gegen seine humanoiden Schöpfer wendet, nicht auf rätselhafte Weise ins Werkzeug einer feindselig eingestellten außerirdischen Macht. Die Maschine wird bei Kubrick zum Fetisch. Sie hat gleichwohl 2023 global zweierlei Performances: eine westliche und eine südliche.

Mit Maschinenhilfe – in Form von Kanonen, Fabriken und finanzindustriellen Flächenbombardements – haben sich die Patriarchen des Abendlands fünfhundert Jahre in Besitz der Weltgeschichte gesetzt. Der Maschine erwuchs der Glorienschein einer plausiblen Erklärung für das Phänomen der „westlichen Überlegenheit“. Sie wurde zugleich und in wachsendem Umfang – man denke an die schon ikonografischen Bilder der amerikanischen B52-Bomber über Vietnam – im globalen Süden (und im Denken der Linken) zum Sinnbild für koloniale Aggression. Man hielt die Maschine, das Instrument kolonialer Gewalt, für wesensgleich mit kolonialer Gewalt.

Aber insoweit es keine „Maschine an sich“ gibt, dürfte die Maschine nicht das Hauptproblem sein. Für Conlan Nancarrow führte das Bündnis mit ihr zu einem einsamen Komponistenleben in der schalldichten Abgeschiedenheit eines Tonstudios in Mexico City. Sein Kollege Henry Cowell hatte ihn nach dem Uraufführungsdebakel darauf aufmerksam gemacht, dass es die am Ende des 19. Jahrhunderts massenhaft verbreiteten „Pianolas“ vereinzelt immer noch gäbe: handelsübliche Konzertflügel oder Klaviere, ausgerüstet mit einer Zusatz-Maschine, einem „Vorsatz“, der es ihnen ermöglichte, die mittels einer komplizierten Stanz-Mechanik auf einem Lochstreifen fixierte Musik abspielen zu können, ohne dass auch nur ein Finger eine Taste berührte. Exakt, was der Exil-Americano brauchte.

Nancarrow war im achten Lebensjahrzehnt, als er in kurzer Zeit zumindest unter Musikern weltbekannt wurde. Sein unermüdlicher Promoter war Ligeti. Ohne Ligetis von unverkrampfter Bewunderung inspirierte Propaganda wäre Nancarrow wohl bis heute kaum jemand bekannt. Neben Ligeti gab es freilich eine Art brechtschen Zöllners, einen bescheidenen Mann der Sorte, die den Großen das Große abzuverlangen weiß: Für den 2012 verstorbenen BASF-Chemiker Jürgen Hocker, einen Musikfreund der besonderen Art, wurden die Pianolas zu einer Art Schicksal. Als er 1982 auf den damals komplett unbekannten Nancarrow stieß, war es um Hocker geschehen. Wo es gerade passte – Nancarrow lebte auf kleinem Fuß und es passte oft – half Hocker großzügig. Der Musiker hatte phasenweise kein spielbares Instrument im Haus, ihm fehlten die Produktionsmittel. Hocker versorgte ihn großzügig und netzwerkte auch an der Verbindung zu Ligeti mit. Er war nicht nur Mäzen und Bewunderer, er hat aus seiner Begeisterung Wissen gemacht und war der Fachmann und Promoter in Sachen Player Pianos und Conlan Nancarrow: „In einem solchen Instrument befinden sich 88 kleine Blasebälge. Und sobald man ein Vakuum erzeugt und ein Loch in dem Lochstreifen erscheint, wird dieser Blasebalg an das Vakuum angeschlossen und er wird leergesaugt. Und diese Zugkraftbewegung wird hinten auf die Taste der Klaviermechanik übertragen und der Ton erklingt.“

Und das bedeutet, dass eben zugleich nicht nur maximal 10 Töne – acht Finger und zwei Daumen – auf den Tasten und Saiten des Player Piano erklingen können – sondern ihrer 88 (die Gesamtzahl der Tasten eines Klaviers). Es bedeutet neben einer unabsehbaren Reihe anderer Konsequenzen: dem guten alten Klavier erwachsen auf dem Weg einer wohlorganisierten und schon quantitativ ganz anders aufgestellten Summe der vielen Einzelstimmen gänzlich neue Dimensionen. „Wohlorganisiert“, das darf wiederholt werden, vor allem nach Maßgabe der Temporelationen, der metrischen und rhythmischen Zahlenverhältnisse in den verschiedenen Schichten verschieden eingefangener und losgelassener und bis zu ausgelassener Erscheinungsweise von Musik und Zeit.

Study 3d

Study 3d hebt wie ein guter alter Blues fast konventionell an, bleibt bis zum Schluss im Blues-Duktus und geht im Verlauf, so scheint es, harmonisch geradezu schalkhaft unbedenklich mit den Tonhöhen um. Immer wieder bruchstückhaft Blueswendungen, Bluesakkorde; bei 1‘43“ geht ein kurzer Versuch, sich per Accelerando frei zu machen, in ein kadenzartig gedehntes Kleinst-Acapella über und endet überraschend offen. Study 3e ein wahrer Hexensabbath (feministisch konnotiert): in einer schäumenden Bouillon, gekocht auf dem Fleisch von Little Richards Rock’n Roll, balgen sich Charlie Parkers Bebop, Ragtime-Passagen und was weiß ich, es ist zu schnell fürs genaue Erfassen (wie ein Blick aus dem Hochgeschwindigkeitszug auf nahe Natur). Der Eindruck des Gesamtklangs macht am Ende sowieso das Rennen. Mit der Bewegungsfreiheit als Lohn der Überwindung alter Konventionen, stellen sich Fragen: Kann man in der Zeit oder zwischen den Zeiten schweben? Kann man die Zeit wie ein kubistisches Gemälde erleben, auf dem auch die dem Auge abgewandten Seiten und Ohren und Münder einer Figur zu sehen sind? Kann man, von vergnügt bis verstimmt, auf drei Hochzeiten tanzen? Man kann.

Auch die Maschinenmusik hat ihre Aura, auch sie Menschenmusik. Nicht die billigen Drums ‘n’ Bass-Digi-Prothesen, auf denen sich die Masse der Popmusik kosten-effizient durch ihre Zeiten bewegt. Die Maschine ist in der Lage, hochkomplizierte Gedanken einer Musikerfinderin in Klangerscheinungen zu übertragen. Einem real existierenden Musiker ist das via Kleinhirnimpulsen, Nervenströmen, Muskelspannung und Gliederbewegung unmöglich.

Was immer eins von Maschinenmusik hält: Allein, einmal nicht darüber schreiben zu müssen, wie wer das Stück doch wieder einmal so toll oder doch eher flau hinbekommen hat, ist vielen Musikschreiberlinginnen von Herzen recht. Der von jedweder Schmeichelei weltenferne Ton dieser Instrumente, ihre unbeirrbare, unfehlbare Konsequenz an Folgerichtigkeit und Stimmigkeit werben für die Maschinenmusik. Nancarrows Studies sind offen, sie sind anschlussfähig: ein Resultat auch ihrer offenen, soweit erkennbar, nicht von Modellen wie der A-B-A-Konstellation, Strophenartigem oder dem Sonatensatz vorweggenommenen Verlaufsformen. Fürs Player Piano sind sie gearbeitet, weil dieses Instrument den eigensinnigen Vorstellungen Conlan Nancarrows perfekt entgegenkam. Auf dem Player Piano bewegt sich, was erklingt, qua Maschine vermutlich so nah an den Ideen des Urhebers wie nie zuvor. Aber ein Klavierspieler, der sich hinsetzte und eine der Studies von Hand, auf einem normalen Konzertflügel spielte, müsste mehr als vier Arme und die Kleinhirnkapazität haben, die dann auch noch kompliziert verwobene Schichten verschiedener Zeiträume und Zeitstimmungen formplausibel zu koordinieren hätte. Und selbst, wenn es Pianistinnen mit vier und mehr Armen und entsprechenden Kleinhirnfähigkeiten gäbe – Musik wie in Study 7 mit ihrem höchst munteren, der Vielgesichtigkeit auch guter Laune Gestalt gebenden Kontrapunkt würde bei ihnen qua Instrument irgendwie doch wieder nach Tschaikowsky oder Rachmaninoff klingen (im besten Fall nach Strawinsky). Der fiktive Edelsolist würde in Study 10 am Anfang klingen wie ein gut rasierter Gershwin after hours in irgendeiner Bar in Harlem. Aber dann schichten sich Räume mit je eigenem Zeitinterieur in derselben Zeit; es klingt, als stellten zwei, drei Barpianisten, mehrere Gershwins mit Kippe zwischen den Lippen auf einmal, in sich überlagernden Zeitschichten eine neue Art Kontrapunkt vors Ohr, einen Kontrapunkt ohne Einheit der Zeit (wie steht es im Traum damit?) –  eine Dialektik der Zeit entfaltet sich.

Study 9

In Study 9 spielen die Halbtöne eine Rolle, ohne dass nun von Chromatik zu reden wäre. In Nancarrows Musik gibt es weder Melodien, noch sonst den Ausdruck der Gestimmtheit eines Einzelwesens, Semantik erübrigt sich. In seiner Polyphonie der Zeitverhältnisse steht das Einzelne im steten Abgleich, Austausch und Widerstreit mit dem anderen und mit den anderen. So funktioniert zwar auch die alte Polyphonie. Nur sind in ihr die anderen Stimmen nicht wirklich anders, sie gehorchen in allen Stimmen denselben Zeitmaßen und Harmonien. In Nancarrows “temporaler Vielschichtigkeit” (Ligeti) tauschen sich dagegen grunddifferente Momente der Form, der Zeit, der Atmosphäre aus und vermischen sich zu einem Gesamteindruck, den eins, in Nancarrows Sinn, als Musik nicht für Einzelne, sondern fürs Kollektiv hören sollte.

Weil es keine traditionellen Verlaufsformen mehr gibt, fehlen auch Expositionen eines eingängigen Themas oder Motivs, es gibt keine Überleitungen und Schlusswendungen wie gewohnt. Die Studies enden oft jäh, wenn auch bis zum letzten, dem Grundton logisch ausgearbeitet und abgeschlossen, Study 9 ist nicht die einzige Ausnahme: Gegen Ende deutet ein echtes Ritardando auf den Schluss hin; etwas, das stark an eine turbulente Stretta von Rossini erinnert, macht das Herz munter, es hüpft.

Die maschinenhaft unerbittliche Geradlinigkeit eines stark rhythmisierten Cantus firmus in Study 12, der, oft in den Bass wandernd, einmal wie ein Choral, einmal wie eine Spaßfigur im hohen Diskant durch eine Vielzahl von Variationen geht; die in einer Art eingeschobener Solokadenz erkennbare spanisch-mexikanische Gitarrenmusik als Ausgangspunkt; die an Bachs Orgelpräludien erinnernden maschinenrasenden Arpeggienketten – all das wird der Handarbeiter am Konzertflügel sowenig zuwege bringen, wie die von der Maschine kühl gefilterte Melancholie jenes Cantus firmus.

Aber es gibt 2023 Musiker, die Nancarrow spielen können, nur eben keine Pianisten. Die Offenheit der Studies in Richtung Vergangenheit und Zukunft erweist sich in der wachsenden Zahl von Bearbeitungen. Das Ensemble Modern hat schon vor vielen Jahren eine (großartige) CD mit Instrumentalbearbeitungen einiger Studies herausgebracht, und man darf sich freuen, was aus Nancarrows Begriff von Polyphonie – wieder analog zu Bachs, auch nicht für ein bestimmtes Instrumentarium komponierter „Kunst der Fuge“ – noch alles an extrem kurzweiliger Musik entstehen wird in den Nancarrow-Bearbeitungen und Weiterentwicklungen für diverse Instrumente auf diversen Kontinenten.

Vom Blatt gespielt von reaktionsschnellen, Takt und Puls gnadenlos mitzählenden und mitfühlenden Musikerinnen ist die Riesenstimmenzahl kein Problem, egal, wie viele Stimmen Nancarrow für eine bestimmte Studie in den Lochstreifen gestanzt hat: eine entsprechende Zahl von geschickten Bläsern und Streichern kann die damit vom Urheber gewünschten – maximal 88 – Töne erklingen lassen, von Kammermusik bis zu großorchestraler oder brachialrockn’rolliger oder jazziger oder schönbergscher – am Ende immer zu nancarrowscher Wucht.

Study 3e

„Meine Zeit wird kommen“, hat Gustav Mahler einst gesagt. Nancarrow hätte das noch zu Lebzeiten im Perfekt formulieren können. Er war extrem wortkarg, nicht schüchtern, ihm fehlte es auch nicht an Ausdrucksvermögen. Er war nur – kein Wunder bei jemand, der es so lange aushielt, ignoriert zu werden und der es trotzdem schaffte, konzentriert weiterzumachen – extrem ich-stark. Da kann man gut die Klappe halten. junge Welt, August, 2023

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Mozart Requiem. Savall.

Mein Gott, noch einmal Mozarts Requiem, es gibt doch nun wirklich genug davon – jede Menge Annäherungen in allen denk- und fühlbaren Lesarten dieses eindeutig letzten Mozart-Fragments; es wurde, zumindest die Teile, die gesichert von Mozart sind, auf dem Sterbebett ersonnen. Nun aber Jordi Savall. Der, soll man sagen spanische? soll man nicht, denn die Katalanen legen, wie in den letzten Jahren deutlich, viel Wert auf Identität – also Jordi Savall, der katalanische Musikwissenschaftler, der Gambist und polyglotte, polymediale Aktivist alter Musik, hat mit seinem Chor La Capella Nacional de Catalunya und dem Ensemble Le Concert des Nacions eine, in mediterraner Kraft wurzelnde Spielart historisch informierten, historisch beflügelten Musizierens geschaffen. Vom Introitus dieses katalanischen Mozart-Requiems an ist klar: die Aufnahme macht vom zweiten Ton an mit dem Tempo – nicht allein mit Schnelligkeit, auch mit einer unerbittlichen Geradheit des im Takt Voranstürmens – deutlich: hier wird absichtsvoll drauflos musiziert. Ergo kein erlauchter Schnickschack, nicht die Sterbebett- und Jenseitsahnungs-Nummer wie so oft im Fall Schubert, kein Weihrauch. Auch aber keine aufs Referenzielle erpichte Demonstration des spektakulären Gegenteils für den Markt.

Viele mit Mozarts Requiem Vertraute werden erstaunt sein: der in der Höhe geradeaus wie ein Laser zielende Sopran Rahel Redmonds im Kyrie schreckt an der Grenze zum Stilbruch fast ab ohne das gewohnte Timbre. Die allerdings vom Komponisten nur wenig exponierten Solisten interagieren mit einem dynamisch präsenten Chor, einem das Geschehen dunkel sparsam akzentuierenden kleinen Orchester. Es wird sich den Interessierten ab dem Kyrie in Savalls uneitler Lesart auch die Erkenntnis aufdrängen: nicht erst den sterbenden Beethoven hat die Lektüre einer ihn zu spät erreichenden Händel-Gesamtausgabe aus England auf dem Sterbebett beglückt – auch den spätesten Mozart suchte der anglo-sächsische Händel glücklich heim, Bachs und Händels Kontrapunkt begleiteten ihn himmelwärts.

Savalls Chor – maßstäblich transparent zum von Mozart kammermusikalisch klein besetzten Orchester – entfaltet sich prächtig. Das Kolorit des Ganzen (ohne Flöten, Oboen, Hörner) mit zwei Trompeten, drei Posaunen und zwei, die Aura stark prägenden Bassetthörnern entspricht den wunderbar empathischen, vom Freimaurer Mozart für die Logen komponierten späten Musiken zum Thema Trauer und ToVor so viel südlichem aufgeklärt kraftvollem Musikantentum rückt auch die Frage nach der Qualität der bis heute strittigen, weil unzureichend belegten Quellenlage dorthin, wohin sie gehört: in den Hintergrund. Savall spielt die von Joseph Eybler und vor allem die vom mit Mozart intim vertrauten Schüler Franz Xaver Süßmeyer bearbeiteten oder aus Eigenem ergänzten Partien mit derselben Prägnanz und düsteren Leuchtkraft wie alles Übrige. Kommt Zeit, kommt Offenheit. In Jordi Savalls 2023er-Perspektive wird Mozarts Requiem erneut interessant und hörenswert. junge Welt, Juli 2023

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ensemble resonanz Saison 2023/24

»Auch Zwerge haben klein angefangen.« Ein Filmtitel Werner Herzogs aus den 70er Jahren. Wer den Vorzug hatte, die Mitglieder des Ensemble Resonanz in T-Shirts und kurzen Hosen oder Röcken zur Zeit ihres Karrierestarts in Hamburg 2001 zwischen Fahrrädern und Aldi-Tüten in ihrer ersten Hamburger Residenz im Keller der Laeiszhalle zu erleben, fühlt sich an Herzogs Zwerge erinnert, freilich, wie sich erweisen sollte, eine Art Riesenzwerge. Der Start in Hamburg fand 2017 an jenem Abend sein Ende, als dieser erstaunliche Klangkörper als Residenz-Ensemble des Kammermusiksaals der Elbphilharmonie die Bühne betrat.

Will man einen Wesenszug globaler Entwicklung im dritten Jahrtausend auf den Begriff bringen, stößt man auf »Transformation«. Fürs Ensemble Resonanz ein Schlüsselwort. Die Gruppe sieht sich selbst in einer »Brückenfunktion«: In der exquisiten Reihe führender deutscher Kammerensembles baut Ensemble Resonanz programmatisch und praktisch überzeugende Brücken vom Status quo in eine für die klassische Musik fruchtbare Zukunft.

So steht es in der Ensemble-Resonanz-Saisonvorschau für 2023/2024, am Ende des Frühlings in den Räumen des Ensembles in kleinerem Kreis vorgestellt von Geschäftsführer Tobias Rempe und PR-Frau Ruth Warnke. Zunächst die Programmgestaltung. Mögen Spitzenklangkörper wie das Frankfurter Ensemble Modern, die Musikfabrik oder andere Spezialensembles neben der Arbeit mit vornehmlich zeitgenössischen Komponisten selten auch Ausflüge in den Bereich älterer Musik unternehmen; mögen das Freiburger Barockorchester, die Akademie für Alte Musik Berlin, Concerto Köln als die führenden deutschen Spezialensembles für ältere Musik noch seltener auch mal ins 20. Jahrhundert vorwagen – Marginalien. Ensemble Resonanz wird dem Anspruch, auf überwiegend modernen Instrumenten an der Weiterentwicklung auch historisch-kritischen Musizierens mitzuwirken, gerecht: Zusammen mit dem Dirigenten Riccardo Minasi legte man zuletzt Mozarts sinfonische Schluss-Trias vor (die »Prager« und die »Linzer« Sinfonie folgen im Oktober 2023). In der kommenden Saison geht es mit Brahms weiter.

Zugleich stehen Namen wie Enno Poppe, Rebecca Saunders, George Aperghis oder Georg Friedrich Haas für die gelebte Kontinuität neuester Musik im Ensemble Resonanz. In der kommenden Saison schlagen Künstler wie der britische Komponist und Allrounder Matthew Herbert ihre Zelte beim Ensemble auf. In seinem Stück »The Horse« schlägt Herbert den Bogen vom Experimentaltheater zu den Samples und Sounds »klassischer« Musik des Tages. Im großen Saal der Elbphilharmonie trifft Ensemble Resonanz in der alevitischen Sängerin Aynur Dogan auf »Kurdistans größten Vokalstar«. Auf Kampnagel machen die Hamburger Brückenbauer zusammen mit der Marc Sinan Company in einem performativen Antikriegskonzert die Menschheitskatastrophe Krieg bewusst.

Transformativer Brückenbau auch, was den Ort des Erklingens klassischer Musik angeht. Der exzellent repräsentativen Erscheinungsweise für die wachsenden Neugierränder des gewesenen Bildungsbürgertums im elbnahen Kammermusiksaal (und weltweit auf den großen Podien der Klassik) haben die Ensemble-Resonanz-Musiker von Anfang an die Idee der Verbindung von Klassik und Klub hinzugefügt: Das hocherwünscht existenznotwendige junge Publikum braucht eine habituell wie kulturell differente, eigene Aura.

Für diesen Zweck ist im Bunker am Heiligengeistfeld, vis-à-vis dem St.-Pauli-Stadion, ein »lässiger Hermaphrodit zwischen Klub, Konzertsaal und Bar« (Marcus Stäbler, NDR Kultur) entstanden, der »Resonanzraum«, Heimat und Probenort für die Musiker des Ensembles, »Möglichkeitsraum« fürs Publikum. In der demnächst ins zweite Jahrzehnt gehenden Reihe »Urban Strings« und anderen Formaten ist dort von konzentrierter Teilhabe und nachdenklichem Genuss bis zu gehobenem Abhängen alles möglich.

Transformativ interaktive Wirkung auch in die und aus der Elbmetropole, so Konzerte für im reichen Deutschland strukturell Unterversorgte wie die Demenzkranken, die Kinder. Andere Bunkernutzer wie der Klub Übel & Gefährlich werden zu Medienpartnern. Ein kulturelles Geben und Nehmen im Hinblick auf den schickverrufenen Stadtteil St. Pauli und das Schanzenviertel ringsum: Ensemble Resonanz spielt im Puls der Zeit, weil es den sechsten Finger draufhat.

Ökonomisch ist das Ensemble als GbR mittelständisch aufgestellt, politisch eher basisdemokratisch. In Tobias Rempe, anfangs selbst Mitglied der Geigengruppe, hat es nach einigem Suchen einen Manager und künstlerischen Inspirator gefunden, der das Ethos der Kapelle selbst lebt und zugleich so authentisch wie erfolgreich nach außen vertritt und organisiert. junge Welt, Juli 2023

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Strawinsky.Viol’konzert.Kammermusik.Faust.Les Siècle.Roth.

Wer kennt Strawinsky nicht. Wer hat nicht wenigstens den Namen schon mal gehört. Ein Künstler voller Widersprüche. 1882 im zaristischen Russland geboren, dort aufgewachsen. In Frankreich 1910 auf einen Schlag berühmt geworden. Wechselnd zwischen Russland, Frankreich, später auch der Schweiz, verbrachte er viel Zeit in Paris, seit 1920 dauerhaft, bis er 1940 vor den Nazi-Truppen in die USA floh. Er starb dort 1971.

Keiner seiner vielen Kollegen in der damaligen Avantgarde war so geradezu populär in der Welt der elaborierten Musik wie Igor Strawinsky. Niemand war zugleich in der Fachwelt so umstritten. Theodor W. Adorno spitzte die Sache zu, ihm ging es um Polarisierung: Arnold Schönberg (=der Künstler) gegen Igor Strawinsky (=der Scharlatan). Große Teile des Publikums haben mit Strawinsky indes eher das Problem: Seine Musik erreicht das Herz nicht oder sie erreicht oft für nur kurz das Herz jener, welche sich Zeit zum Hinhören nehmen. Sie klingt „trocken, kühl, durchsichtig und prickelnd wie Champagner extra-dry“, so der Meister selbst in seinen Erinnerungen.

François-Xavier Roth. Photo by Mark Allan

Francois-Xavier Roth, er wird der internationalen Musiköffentlichkeit im Frühjahr 2023 mehr und mehr als einer der bedeutenden Dirigenten der Gegenwart kenntlich, ist als Gürzenich-Kapellmeister mit klassisch-romantischer Musik bekannt geworden. Auf einer neuen CD macht er sich, zusammen mit der Geigerin Isabelle Faust und seinem, auf alten Instrumenten arbeitenden Orchester Les Siècle, an die klassische Moderne: Strawinskys Violinkonzert sowie andere, gezielt der Geige gewidmete Kammermusiken.

Die ersten beiden Sätze des Violinkonzerts beginnen denn auch mit dem gleichen orchestralen Aufschrei, gefolgt von drei aufstampfenden Bekräftigungen, dann geht echt die Post ab. Mit Brecht, dessen Frage allerdings auf die Macht zielte, die angeblich verfassungsgemäß „vom Volke“ ausgeht, wäre mit Strawinsky zu fragen: wohin geht sie aber, die Post? Wer Antwort auf diese Frage weiß, hat Strawinsky begriffen, die Ohren für seine Musik gehen ihr auf.

Um es kurz zu machen: sie geht, die Post der strawinskyschen Musik, in Richtung Ballett ab, von dort kommt sie. Von der Bewegung in der vom Rhythmus skandierten Zeit. Sie bewegt sich in ihr in einmal schleppenden, einmal rasenden Schrittfolgen, in Pirouetten, Gesten, Sprüngen, Pausen und erneuten Drehungen. Die rhythmische Energie ist ihr Inhalt und Ausgangpunkt, ihre DNA auch in den meisten solcher Werke Strawinskys, die nicht, wie eine Vielzahl anderer, ausdrücklich als „Ballett“ deklariert sind. Kein Wunder also, dass der polyglotte Russe im Wirkungsfeld des ingeniösen russischen Impresarios Sergej Djagilew (1872-1923) stand, als Strawinsky durch dessen, im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts sensationelle „Ballets russes“ berühmt wurde. Undenkbar das Ganze auch ohne den legendären, in Kiew geborenen Tänzer und Choreographen Vaslav Nijinski sowie ohne bildende Künstler vom Schlage Pablo Picassos, Henry Matisse‘, Max Ernsts.

Dass es Strawinsky erklärtermaßen nicht um Dinge wie das Abbilden und Hervorrufen von Gefühlen ging, sondern – so eines seiner Lieblingsworte – um „Konstruktion“, also um strenge Form, hat ihm den Ruf eines, bei Linken nicht beliebten, Formalismus eingetragen. Bewirkt vielleicht durch eine gewisse Aufführungstradition, kann diese Musik akademisch wirken. Wenn auch elegant und gut gemacht, klingt sie oft ausgedacht und kühl, eben nicht nur extra-dry sondern auch on the rocks.

Das progressiv Moderne an ihr bleibt die Bewegung. Sie kommt in Strawinskys Musik zu sich selbst, wird zu dem, was früher der „Gehalt“ war. Über die ihr als Tanz eingeschriebenen, von Strawinsky souverän beherrschten, Formen gerät sie nie „romantisch“ außer Kontrolle.  Isabelle Faust und Francois-Xavier Roth musizieren in der bis ins Letzte durchdachten Rage – für Momente auch Schwermut – dieser Musik der mittleren der drei Schaffensphasen Strawinskys die Kraft ihrer Ursprünge, sie liegen in der Volkskultur des alten Russland.

Selten hat man eine Meisterin des noch im Pianissimo intensiven Non vibrato wie Isabelle Faust derart kraftvoll vibrieren gehört wie in „diesem“ Strawinsky. Doppelgriffig zerhackt ihr Springbogen die Zeit, sie hat nicht nur ein großes Talent, sie hat auch, wenn die Musik es ihr zuschreibt, ein geradezu ansteckendes Temperament, sogar, im Sinn Strawinskys, schmalzige Portamenti hält sie vor. Roths Orchester lässt im ersten und letzten Satz an das von Strawinsky gemeinte „Prickeln“ denken. Das schäumt und perlt allerdings selten, Strawinskys Instrumentation ist für alles gut. Man hört eher die kristallklare Schärfe, mit der Champagnerperlen den Gaumen stechen; die Musik ist durchhörbar und klar strukturiert wie etwa jene Rieslinge aus Deutschland, die man heute „feinherb“ nennt; sie können spritzig sein, sie sind nicht billig.

Die jungen Genies der Musik, der Literatur, der bildenden Kunst, die da wie auf ein Kommando im Paris vor dem Beginn des 1. Weltkriegs zusammentrafen, erfüllte alle das Verlangen, der dicken Restsüße, von der die Kunst des vorausgegangenen Jahrhunderts am Ende schwer befallen war, die radikale Ordnung und Kühle des Intellekts entgegenzusetzen. Faust und Roth zeigen in der Neuerscheinung, dass Musiker wie Strawinsky dabei nicht den Spaß an der Musik verloren. Extra-dry und feinherb wirken beispielsweise auch die in derselben Zeit entstandenen Bilder der blauen Periode Picassos, auch sie malerisch höchst komplex und kraftvoll.

Ein anti-romantisches Konzept. Ihm wohnt die Kraft der Aufklärung inne. Djagilew hat dieses Konzept mit Blick auf die Kunst – gemeint auch deren auf Systemveränderung erpichte Abteilung –in der Losung formuliert: „Erstaune mich!“ Die Neuaufnahme mit Isabelle Faust und Xavier Roth kommt dem im schönsten Sinn nach.  

Strawinsky: Violinkonzert & Kammermusikwerke – Isabelle Faust / Les Siècle / Francois-Xavier Roth (Harmonia Mundi France)

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Heiner Goebbels.Stifters Dinge.

Es ist ungeheuerlich. Wie kann ein Stück Musik, das aus neun Stücken Musik besteht (von denen durch die Bank nicht sicher ist, ob für das, was sie sind, noch der Begriff „Musik“ eine gute Wahl ist), wie kann solch ein Stück Reize und Assoziationen auslösen, die buchstäblich alle Sinne ansprechen? Und dann: wie soll man Wesen und Gestalt von Heiner Goebbels‘ Stück „Stifters Dinge“ überhaupt beschreiben, welches Genre bedient es?

Obwohl es eine CD mit der akustischen Erscheinung des Stücks gibt, ist „Stifters Dinge“ von Idee und Präsenz her Kunst für ein Life-Erlebnis. Die Leute betreten eine ausreichend große Halle. Im Dunkel, sparsam ausgeleuchtet, mehrere flache Wasserbecken, drum herum eine Art Maschinenpark, eine dunkel theatralische Aura. Kein Vorhang. Eins sitzt unmittelbar im Geschehen, mehr in als an der Bühne.

„Licht, bewegte und unbewegte Dinge, Projektionen, Bühnenregen, Nebel, Trockeneis, aufgezeichnete menschliche Stimmen, verstärkte Klänge, hervorgebracht“ (von Musikinstrumenten) „und von zu Klangerzeugern umfunktionierten Dingen, variieren einander sukzessiv und simultan“, so der Musikwissenschaftler Rasmus Nordholt Frieling in seinem Buch „Musikalische Relationen“.

Eine Vielzahl maschinenhafter oder naturhaft schürfender oder lauthals wie tropfender Regen in Erscheinung tretender Klänge metallischer, hölzerner, steinerner oder flüssiger Natur erwartet die Anwesenden. Die Wasserbecken füllen sich. Ein von unsichtbarer Hand über groben Untergrund gezogener Steinklotz gibt sich geräuschvoll zu erkennen. Dazu vom Computer die Stimmen von Ureinwohnern irgendeiner zeitfernen Weltgegend. Ein akustisches Welttheater voller Imaginationsschübe und Gedanken an Klimaschutz, Kolonialismus, Überlegungen über den Unterschied von Syntax und Semantik in der Sprache. Eins sitzt an und in der Bühne wie als ihr Teil in einer imaginären Welt aus Klängen und einer Sorte Sprache, die selbst Musik ist wie die Musik Sprache. Mindestens drei der fünf Sinne sind im Spiel: Augen, Ohren, Nase.

https://www.heinergoebbels.com/works/stifters-dinge/4

In zwölf „Songs“, die unter Überschriften wie „Nebel“ / „Salz“ / „Wasser“ / „Wind“ / „Die Bäume“ / „Das Ding“/ „Die Küste“ / „Der Sturm“ aneinandergereiht sind, ruft Heiner Goebbels die Elemente und einige archaische Monumente der Naturerscheinung wach – er lässt wachrufen. Aber fürs Publikum sichtbar gibt es keine Performer. Alle akustischen Begebenheiten, die sich in Geräusche, in Klänge verwandeln, die zu Tönen werden, welche sich zu Melodien bis hin zum Thema des a-Moll Orgelpräludiums BWV569 von Bach formen – werden im Moment, da sie erklingen, von Maschinen erzeugt; die Klaviere lassen ohne direkte menschliche Einwirkung von sich hören. Das Ganze geht komplett von Algorithmen aus.

Aber romantisch umfassender und zugleich modern intensiver als in dieser Sorte – ein Angebot – MaschinenTheaterMusikInstallation, hat kein Dvorak, kein Wagner, kein Bruckner und keine Sechste Mahler die Welt als Naturereignis und globales Netz von Klangerscheinung und Sprache in Musik hereingeholt in die Seele.

Heiner Goebbels

Die genannten Größen der Musik vergangener Zeiten bleiben groß. Aber groß eben innerhalb einer bestimmten Art musikalischer Formation, die sich seit dem Ausgang des Mittelalters in Mitteleuropa gebildet hat. Heiner Goebbels geht neue Wege, radikaler neu als etwa die den Musikgeneigten bekannten „neuen Wege“ Beethovens. Denn die Art und Weise, wie Goebbels mit dem umgeht, was bei ihm unterm Strich ein, wenn nicht neuer, so doch radikal erweiterter Begriff von Musik und ihrer Praxis ist, lässt vermuten: sein Komponieren sieht sich und seine Ästhetik signifikant weniger eingebunden ins Netzwerk der Tradition, als es beim komponierenden Beethoven bis zuletzt in der Missa der Fall war. Beethovens großartige Neuerungen stellten in der Konsequenz das Überkommene, dessen Existenz riskierend, infrage. Aber darum geht es Goebbels nicht. Sein Verhältnis zur ihn umgebenden Welt ist im Vergleich zur Tradition – hier macht das aktuelle Reizwort endlich einmal Sinn – dereguliert. Er zitiert, collagiert, montiert, was an äußerer Natur, an Tradition, Geschichte oder Gesellschaft vors Künstlerbewusstsein tritt. Er lässt, es in akustische Wellen verwandelnd viel freier als die Alten, etwas Neues daraus werden. Goebbels zerstört die alte Musik nicht, er verweist sie, wohin sie gehört und wo sie schon lang ist: ins Museum. Wer wissen will, was draußen in der Welt vorgeht, besorge sich Goebbels CD “Stifters Dinge“. Der im Song „Trees“ („Wald“) mit einem langen, von Goebbels mit seiner Art Klangmaterial wie ein Lied komponierte Text des österreichischen Dichters Adalbert Stifter (1805-1868) ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch in einem guten (historisch, materialistisch, dialektisch) Museum noch viel über die Welt draußen zu erfahren ist.

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

Heiner Goebbels/Klaus Grünberg/Hubert Machnik/Willi Bopp: Stifters Dinge (Universal/ECM; spotify)

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