Chromatisches Wetter

Für Vera.

Es regnet seit gestern. Auch das noch. Er war so tröstlich an vielen Tagen, dieser im Licht einer tieferwandernden Sonne schimmernde und blassglühende, dieser oft so schön in die Sternennacht hinüberdämmernde Herbst.

Das Wort „kämpfen“ hat bei den Kommunisten ein schrecklich heroisches Rückgrat. Unerreichbar die Helden des antifaschistischen Kampfes in ihrer Standhaftigkeit, ihrem selbstlosen Mut, in ihrer Leidensfähigkeit. In Brechts in so vielen Traueranzeigen verstorbener Vorbilder zitierten Zeilen über jene, die in der Spitze „ein Leben lang“ kämpfen, weshalb sie die Stärksten sind und unentbehrlich, taucht immerhin das Leben auf.

Es verläuft nicht heroisch, es ist es an keinem Punkt. In einem bestimmten Entscheidungsmoment auf Leben und Tod, so wäre es vorstellbar, setzt sich in dieser oder jenem spontan – und natürlich aufgrund bestimmter psychosozialer politischer Prägungen und Einsichten – so etwas wie eine Notwendigkeit durch. Auch das Wort Opfer wäre der nachmaligen Heldin, dem späteren Helden nie in den Sinn gekommen. Es könnte mehr ein nanosekundenschnelles Abwägen sein: In meinem Wagnis rechnet sich mein Einzelleben gegen die vielen Leben der Genossinnen und Kameraden auf, die durch mich, die ich und der ich es nicht mehr erlebe, gerettet werden. Aber selbst das hat, wie alles, eine Dialektik. Was der Held, die Heldin vollbringt, ist auch eine Art Freitod. Die Selbstlosigkeit lässt das Selbst im Stich. Das ist das Beklagenswerte am Heroismus.

An Tagen wie diesem, unter so grau verhangenen Himmeln, solche Nachrichten im Ohr, solche Lügen und Hasspredigten, sind wir keine „Kämpfer“. Wir sind inmitten aller vom Lügengewebe fest Umstrickten und Vergifteten, mit ihnen auch Opfer. Wir sind allein. Das weltrevolutionäre Zentrum hat sich verschoben, es liegt fern im Süden, im fernen Osten, die starken Genossinnen und Genossen an unserer Seite sind weit weg.

Unsere Sache steht so gut wie nie. Sie ist zugleich, zusammen mit der Erde, auf der wir leben, so gefährdet wie nie zuvor. Unsere Stärke in unserem Land könnte in der Biegsamkeit liegen, von der Brecht in der chinesischen Legende den Weisen im Bild des Wassers, das den Stein höhlt, sagen lässt, das Weiche besiege das Harte. In der Kunst des Hinnehmens dessen, was wir – vorläufig und weit entfernt von fernöstlichen Legenden – nicht ändern können und in der Weisheit, uns darauf einzulassen und damit zu leben, bis sich die Zukunft wieder öffnet.

Auch mit dem Gedanken der Möglichkeit, dass die Zukunft sich nicht wieder öffnet, haben wir zu leben. Kämpfende, da sie über die gigantischen Gefahren, die Menschheit und Erde derzeit drohen, gut unterrichtet sind, erfüllt die Angst um ihr Leben vielleicht noch stärker als andere. Für was wir am Ende schließlich vorab kämpfen, ist ein „Leben, ohne Angst zu haben“.

Auch für solche Herbsttage gilt das. Ihnen spielt kein großes Orchester auf mit viel Blech und Pomp. In ihnen erklingt eine arme kleine Triangel. Hören wir ihr erst einmal einfach nur zu. Auch sie begleitet uns. Gemach, sie wird ihren Platz im großen Ensemble schon wieder finden. junge Welt, September 2022

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