Heilige und Hure.

Patrizia Kopatschinskaja, hier eher kindlich

Auf den Konzertplakaten der Klassik steht der Name des Orchesters und/oder des Solisten deutlich im Mittelpunkt, das Repertoire viel kleiner irgendwo drunter. Maximal drei Komponisten, mehr sind es in der Regel nicht, gegriffen meist aus dem traurig engen Fundus der »Großen« der Musik des 19. Jahrhunderts. Das war am Dienstag abend, dem 18. April, in der Elbphilharmonie in Hamburg anders. Unter dem Titel »Maria Mater Meretrix« stand im großen Saal das Bild der Frau in der Musikgeschichte im Mittelpunkt der »Resonanzen 5« des Hamburger Ensembles Resonanz. Für das Konzept zeichneten die zwei Solistinnen des Abends verantwortlich, Sängerin Anna Prohaska und Geigerin Patricia Kopatchinskaja, erstere im langen Barockkleid, letztere wie immer barfuß, in Hosen.

Anna Prohaska

Mit Gustav Holsts (1874–1934) »Jesu sweet« op. 35 ging es im Mittelalter los, allerdings präraffaelitisch zurückgegriffen, der Saal abgedunkelt. Beim folgenden Walther von der Vogelweide (1170–1230), so der für die Maßstäbe der deutschen Gegenwart erfreulich kritische Programmheftbeitrag (Thilo Braun), taucht die Frau lediglich als gebärende »magt« auf. Walthers »Palästinalied« macht den Gläubigen nach uraltem Rezept die räuberischen Kreuzzüge ins »heilige Land« als Missionen im Namen göttlicher Liebe schmackhaft, heute ziehen sie im Namen der »Menschenrechte« los.

Frank Martin

Tobias Rempe, künstlerischer Leiter und Manager des Ensemble Resonanz, wies in seiner kurzen Einführung vor dem Konzert darauf hin: Die in der Marienverehrung durch die Jahrhunderte unveränderte Festlegung der Frau auf ein unkörperliches, abhängiges, duldsames Nebenwesen hat sich bei Licht besehen bis in die Gegenwart nicht entscheidend bzw. nicht überall gewandelt. Die Musikentwicklung in derselben Zeitspanne fand indes in einer Folge musikalischer Revolutionen statt. So passierten an diesem Abend Mittelalter (Hildegard von Bingen), Choralpolyphonie (Guillaume Dufay), Renaissance (Tomás Luis de Victoria), Barock (Antonio Lotti und Antonio Caldara) und Wiener Klassik (Joseph Haydn) Revue. Die Romantik war mit dem schönen Lied »Maria durch den Dornwald ging« und in spätesten Vertretern wie Frank Martin (1890–1974) vertreten. Gipfelnd im »Magnificat«, verarbeitet Martin in seinem »Marien-Triptychon für Sopran, Violine und Orchester« die Tradition auf dramatische, mit bis zur Zwölftontechnik angereicherte Art.

Eingestreut die Zeitgenossen. George Crumbs (1929–2022) erstes Streichquartett »Black Angel« trägt den Untertitel: »In tempore belli«, der Programmhefttext bringt es zeitlich mit dem Vietnamkrieg in Verbindung. Ein zarter, hoher Klang füllte an seinem Ende die Konzertsaalluft; er entsteht, wenn Kristallgläser von Geigenbögen angestrichen werden, darüber eine Art schriller Serenade des durchweg am Steg gestrichenen Solocellos. Es wurde leise, als die Gläser wieder allein erklangen, die Stimmung dimmte nicht zum ersten Mal an diesem Abend ins Gefühlig-Intime.

Prohaskas Sopran bewältigte die sich zwischen den Kompositionen auftuenden, maximal den Faktor acht aufweisenden Jahrhundertsprünge souverän, stilsicher und beeindruckend schön. In den drei »Kafka-Fragmenten« des Ungarn György Kurtag (geb. 1926) drang das fahle Licht und die Gebrochenheit einer brutal dissonanten Gesellschaftsordnung mit ihrer marienhaft statischen Verehrung der bürgerlichen Familie ins Ohr. In ihrem in virtuoser Rage dahinspringendem »Danse macabre« lief Kopatschinskaja (geb. 1977) zu großer Form auf. Sie ist geigespielend ein Wesen zwischen Fee und – im feministisch positiven Sinn – Hexe. Mit Hanns Eislers (1898–1962) »Kuppellied« aus Brechts »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« ging es dem Ende zu. Das Gegenteil der Jungfrau Maria, die Hure Meretrix des Programmtitels, wurde zu neusachlich-aufmüpfiger Musikwirklichkeit. Caldaras Lied der Maria Maddalena, gesungen zu Füßen Christi, machte den herzergreifenden Schluss.

Es gibt keine »großen« und »kleinen« Komponisten, keine Unverträglichkeiten zwischen Stilen und Zeiten. Es gibt nur gute und schlechte Musik und Musiker, die historisch stimmig mit ihr umgehen. Ein gelungener Abend. Werbung für eine von Vorurteilen befreite Klassik. junge Welt, April 2023

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