Unlängst waren auf den Videobildschirmen unserer U-Bahnwagen in der Werbung für ein Konzert in Hamburg die Worte „Sommersinfonien von Brahms und Lalo“ zu lesen. Nanu! Welche Brahmssinfonie sollte denn wohl nach Sommer klingen? Ich dachte immer, die „Frühlingssinfonie“ wäre von Schumann. Und überhaupt: wer hat das mit dem Frühling so präzise herausgefunden, dass sie oder er meint, es so definitiv im Konzert-Marketing einsetzen zu können?
Eine neue CD des französischen Dirigenten Francois-Xavier Roth – er gründete mit „Les Siècle“ ein eigenes Ensemble und leitet mit dem Kölner Gürzenich Orchester seit langem erfolgreich einen der renommierten deutschen Klangkörper – widmet sich Anton Bruckners 7. Sinfonie, eine Musik, die sich in besonderem Maß der Assoziationskünste eines fantasievollen Feuilletons erfreut.
Bruckner Sinfonien erscheinen vielen Interessierten als vor allem „massiv“. Grund dafür sind die vielen Stellen, in denen sich die Blechbläser kompakt des Streicherklangs bemächtigen, um einschüchternd große Klangmassive in den Raum zu stellen. Dann sind da aber neben sehr verschiedenem ganz anderen – im Adagio. Sehr langsam und sehr feierlich – noch die zarten Melodien und dann ein Thema, das weit und volkstümlich ausschwingt, als käme es aus Schuberts weltbeschwingter Brust. Kein Wunder also, dass viele, da Bruckner eben von dort kam, Bruckner hörend, die Alpen vor sich sehen mit ihren traulichen Wiesen, dem grasenden Vieh und dessen friedlichen Glocken – und dann eben, schroff und machtvoll ins Bild gerückt, auf einmal massive Klangfelsen himmelhoch. Solche Kontraste gibt es nur in den Bergen!
Nun leben andere am Wasser. Sie fahren mit Dampfern über die Meere, sie stehen mit Bruckners 7. Sinfonie ganz vorn in der Bugrundung so eines metallenen Riesen, Gischt netzt ihr Gesicht, sie schauen über die Wellen hin zum breiten Horizont, eine Möve kreuzt ihr Blickfeld, sie riechen die Weite, sie schmecken salzig den Himmel. Auch das mag eins bei solchen Klängen imaginieren.
Anders gesagt, Francois-Xavier Roth lässt Bruckner in einer Weise erklingen, die klar macht: Musik hat über ihren Ausdruck einen Inhalt. So wie der Ausdruck, so kann sich der Inhalt verändern. Frühling, Alpen, Ozean, es bleibt dabei: Die Musik – mit millionenfach verschiedenen Inhalten – vollendet sich erst in den Adressaten.
Roths Lesart legt nichts nahe. Aber wo Bruckner ausweislich der von ihm bewusst besetzten Wagnertuben, wie am Ende des Adagio, um das von ihm abgöttisch verehrte, frisch verstorbene Bayreuther Ekelgenie trauert, lässt Roth die Trauer hören in all ihren Spielarten. Dank seiner variantenreichen Weise, Sinfonien zu bauen, kann Bruckner, ohne an Energie und Fluss zu verlieren, urplötzlich den Klang und die Dimension wechseln, vom streichertuttigehöhten Blechbläserchor im Fortissimo zum Holzbläserquartett im dynamischen Mezzoforte, die tiefen Blechbläser arbeiten thematisch, und – in fließender Steigerung – wieder zurück. Roths Orchester setzt sich, immer auf dem Sprung, die weiten Bögen ätherisch ausschwingend, durch plausible Abwechslung den Zusammenhalt garantierend, so zart wie variabel immer neu fort. Das Scherzo rockt im für Bruckner typischen Rhythmus aus Zweier- und Dreiertakt. Es wächst sich aus, wie eigentlich alles bei diesem Sonderling, das lag in der Zeit, sie musste alles irgendwie immer groß haben. Aber so, wie Roth es aufbereitet, wird selbst das, was oft nur bombastisch wirkte, miteins überraschend durchhörbar. Bruckner war der letzte, der mit unergründlicher Naivität gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal den sentimental idyllischen bis bombastischen Prunk vorindustrieller Macht zu Musik werden ließ; beim anfangs auch diesen Duktus draufhabenden reifen Wagner besteht dieselbe Macht bereits in ihrer Gebrochenheit.
Der Wechsel der Tonarten in den oft in renaissancechorhafter Ruhe dahinfließenden Akkorden, die leichten Verzweigungen der Stimmen, ihre Dauertendenz zum Melodiösen in diesen, immer neu ansetzend, auseinander hervor und ineinander hinein wachsenden sinfonischen Energiewaben und Zellen, aus denen in ständiger Bewegung Bruckners Musik gemacht ist, erinnert noch im Unisono an die seltsam allgegenwärtige, rhythmisch raffinierte, ja fast zwanghaft portionierte Polyphonie dieser Musik.
Selten wohl ist sie unaufdringlicher, sinnlicher und zugleich in ihrer Gigantomanie intimer musiziert worden als mit diesem Dirigenten. Junge Welt, Februar 2022
Bruckner: 7.Sinfonie E-Dur – Gürzenich Orchester / Francois-Xavier Roth (Myriosmusic/Harmonia Mundi France)