Man mag es kaum glauben, aber in ihren besten Teilen war die Bourgoisie um die Französische Revolution herum einmal revolutionär. Die Revolution im Herzen, setzte Ludwig van Beethoven in der Musik Horizonte. Das Casals Quartett nimmt zur Zeit alle seine Streichquartette auf.
Was neben seiner technischen Lupenreinheit, Klangschönheit und Intelligenz bei Auswahl und Lesart des Repertoires ein sehr gutes Streichquartett elementar auszeichnet, lässt sich unterm Begriff „Einverständnis“ zusammenfassen. Einander zuhören und zuwenden, mit sich einverstanden sein, vier höchst gebildete und ausgebildete Musikerpersönlichkeiten klingen zu lassen, als wären sie eine. Diese eine allerdings hat, über die Noten auf den Pulten der vier, ungeheuer viele, individuell widerstreitende und dann umso glücklicher wieder harmonierende Seiten. Beim Casals Quartett kommt hinzu, es vergisst überm Interpretieren das Musizieren nicht. Alle Studienjahre, Exzellenzprädikate und Kunsturteile scheinen in dem Moment vergessen, da es richtig losgeht.
Artikulation und Tempogefühl des Casals Quartetts wären mit dem Wort Präzision unzureichend beschrieben. Musik kommt auch aus den Nerven, sie spricht Nerven an. Was die drei spanischen und der eine US-amerikanische Musiker praktizieren, trifft den Nerv, es ist den Nerven gemäß. Seltsam, etwas organisch Materielles wie die Nerven nimmt geistig Wahrgenommenes auf und verwandelt mittels Stromimpulsen und Hirnzellen über Musikinstrumente hervorgerufene Schallwellen in den Geist zurück, aus dem die Musik kommt. Musik ist Bewegung. Die Casals-Spieler machen aus Beethovens ständigem Wechsel aller Parameter, seiner Schichtung von Metrum und Rhythmus in vielen Passagen der späten Quartette die Bewegung eines Geists, der sich in der Musik an sich selbst begeistert.
So beginnt der zweite Satz in op. 127 als große Oper. Alle Instrumente treten arios hervor. Vera Martinez, die Primaria des Quartetts wird zur Primadonna, verwickelt sich in volkstänzerische, serenadenartige Episoden, dann klopft unnachgiebig aber zart die Oper wieder an. Martinez’ Spiel bringt von lyrisch-kratziger Melancholie bis zu Schmelz und Spielwitz alles hervor, was in dieser großen Musik wach werden will.
Im Allegro. Allegro con moto versuchen Bass und Bratsche immer neu, die anfangs elegant strömende Zeit in einem streitbar punktierten Drei-Achtelrhythmus festzumachen; die hohen Geigen setzen Verflüssigung dagegen. Die dialektische Spannung dieser Konstellation löst sich für elysische Momente, den punktierten Stampfrhythmus überwindend, im Überwiegen der verflüssigten, sich verflüchtigenden Zeit, im federleichten Triumph des von sich selbst befreiten Geists.
Aus Opus 135, dem letzten zyklischen Werk des Tonsetzers, machen die Vier Beethovens letzten Kommentar zum Stand der Dinge; aus dem Lento assai seinen schmerz- und wehmutvoll-trostreichen Abgesang. Das geht ans Herz, es verschafft – in welchem Körperteil sie auch immer sitzt – der Ästhetik Genugtuung.
Von messerscharf blitzend bis bernsteinfarben geraunt – das Casals Quartett hat an Klang und Ausdruck alles drauf, was braucht, wer Maß nimmt an einer Größe wie Beethoven. Niemand weiß, wie sich der Tonsetzer selbst die tönende Verwirklichung seiner Geistesströme und -blitze vorgestellt hat. Er setzte lauter Kopien in die Welt von etwas, von dem es selbst zu Lebzeiten des Urhebers kein Original gab, denn das Autograph ist die erste Kopie. Jede Zeit hat ihre Kopien und deren Reproduktionen. Sie wandeln sich mit den Zeiten. Was sich nicht wandeln darf, ist die unauflösliche Verbindung zwischen Original und Kopie, in ihr die Haltung des Urhebers. Und da ist Beethovens Musik in allem, was sie – faszinierend vielseitig – noch ist, vor allem widerständig. Die Beethoven-Interpretationen des Casals-Quartetts stehen lustvoll dafür ein. Junge Welt, Juli 2019
Beethoven: Sämtliche Streichquartette. Vol. I mit op. 18/1, 18/3, 18/4, Klaviersonate op. 14 von Beethoven für Streichquartett arrangiert 127, 135; Vol. II mit op. 18/2, 74, 59/2, 59/3, 132 (Harmonia Mundi France)