Neunte 200

Gehören in der Abteilung Schrifttum die Bibel und Marxens Kapital zu den Alltime-Spitzen auf den Listen des Weltkulturerbes, liegen auch im Bereich Musik die Linken nicht schlecht im Rennen. Ob die “Internationale” bereits auf der UNO-Liste angelangt ist, war kurzfristig nicht zu ermitteln. Mit oder ohne UNO gehört das Lied der global kämpfenden Arbeiterklasse zu den zweifellos populärsten und bekanntesten Musikstücken der Menschheit. Es teilt diesen Status mit dem großen aktuellen Geburtstagskind des musikalischen Weltkulturerbes, mit der am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführten neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens.

200 Jahre hat sich das Bürgertum abgemüht, dieses ultimative Kunstwerk wegzufeiern und totzuehren. Machten die Bürgerlichen die Neunte im sich friedlich einrichtenden Europa des Jahres 1972 mit einer gewissen Berechtigung zur Hymne des Europarats, war Beethovens sinfonischer Schlusspunkt ab 1985 die offizielle Hymne eines Kontinents, der sich, zusteuernd auf einen Sieg über den Systemkonkurrenten, unseliger Traditionen erinnerte. Schillers Ode an die Freude war, als der 23jährige(!) Beethoven sich erstmals mit dem Text befasste, ein tyrannenfeindliches Trinklied, sein Verfasser wurde im Zuge feudaler “Cancel Culture” auf Jahre kriminalisiert und verfolgt; der ältere Schiller gestaltete die Ode kurz vor seinem Tod verträglicher. Und Beethoven unter den Augen der Spitzel und Zensoren Metternichs macht daraus nach drei Jahrzehnten Auseinandersetzung mit dem Text ein chorsinfonisch ragendes Manifest solidarisch kämpferischer, ungeteilter Humanität.

Schon die Deutschfaschisten hatten sich, ohne rot zu werden, kriegstüchtigkeitshalber der Neunten bedient (Herr von Karajan mit Hitlergruß). 1990 wurde Beethovens Weltbotschaft universellen Friedens abermals in den Dienst westlicher Werte genommen: die elysische Freude darüber, dass „alle Menschen Brüder“(innen) werden, geriet beim Großereignis mit dem uralten Leonard Bernstein in der Berliner Philharmonie am Ende der „friedlichen Revolution“ zum Triumphgeheul einer beutegierigen Siegermeute.

Jungbeethoven

Die neunte Sinfonie wird auch derlei überleben. Es gereicht den strikt freiheitlichen Beethoven-Freundinnen nicht zum Vorteil, dass sie auf die Frage nach den Werten der neunten Sinfonie immer undeutlicher nuscheln, immer hilfloser weglassen müssen, was der Tonsetzer ein für alle Mal in die Noten schrieb. Die Musik des revolutionären Volksheers der Franzosen hatte er bereits 1805 in der fünften Sinfonie in der Partitur. Sie ertönt auch noch zwanzig Jahre später im Finale der neunten Sinfonie. Revolutionsmusik von vor dem Thermidor. Das Verhältnis des alten Beethoven zum standortorientierten Napoleon wurde am Ende immer zwiespältiger.

Theodor Adorno kann man einiges nachsagen. Unter anderem zu Beethoven hat er sich klug eingelassen. Die Neunte, schrieb er, das Werk an seinen historischen Ort stellend, war „die musikalische Rettung der Welt im Stande des Subjektivismus.“ Das kann man so stehen lassen. junge Welt, Mai 2024

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