Als diese Zeitung 2014 zum ersten Mal vom äußersten Westrand Sibiriens über das Treiben des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis berichtete, war das bürgerliche Feuilleton in Sachen Currentzis gespalten: Die nicht wenigen Begeisterten wurden von den Gralshütern der seriösen Klassik als dem Populismus verfallen bekrittelt. Seit einiger Zeit treibt ein neues Schlagetotwort sein Unwesen. Wieder trifft es auch den flamboyanten Griechen. Er „polarisiert“, heißt es, und so etwas tut man nicht, wenn man in Politik oder Klassik wirklich dazugehören will.
Dummerweise scheinen Klassikfreunde wie der Intendant der Hamburger Elbphilharmonie Polarisierung zu schätzen. Sie wissen offenbar, dass Polarisieren in den besten Fällen – und zu ihnen gehört Currentzis – Andersmachen heißt, einleuchtender Machen, in der Klassik heißt das auch: mitreißender. So konnten der Grieche, die SWR-Symphoniker und die Geigerin Patricia Kopatschinskaja am Mittwochabend im großen Saal ein Konzertprogramm abfeuern, das nach Zusammenstellung und Präsentation wirklich anders, einleuchtend und – der Applaus des pandemiebedingt ausgedünnten Publikums rauschte unmissverständlich – mitreißend war.
Neue Musik. Aber nicht als Alibi-Einlage, sondern als ein durch die Zeiten wirkendes Konzept musikalischer Klangerscheinungen. Helmuth Lachenmanns Werk steht in der Nachfolge seines großen Lehrers Luigi Nono als eines Infragestellers des gängigen Klassikbetriebs für die endgültige Emanzipation des Geräuschs als äquivalentem Teil der Musik. Das anfang der 1990er Jahre entstandene Stück „… zwei Gefühle…“ arbeitet allerdings neben Geräuschen schon auch mit geräuschhaften und „reinen“ Tönen und sogar mit Intervallen. Lachenmann selbst wirkte als „Sprecher“ mit. Der Text des Universalgenies Leonardo schildert die Urgewalten der Natur, schließlich die Unergründlichkeit der Finsternis einer Höhle und die Reaktion des Wanderers: Furcht und Verlangen. Kein Melodram, keine Programmmusik, auch die Sprache ist jenseits eines Rests Semantik nur noch Klang. Nono nannte eines seiner gewaltigsten Werke, „Tragödie des Hörens“. Bei Lachenmann eine Odyssee des Ohrs, ein differenziertes Klanginferno feinster bis gröbster und schönster bis hässlichster Klangphänomene. Currentzis tanzte mehr als er dirigierte. Der mit seinen 85 Jahren jünglinghaft präsente Lachenmann hatte sichtlich seine Freude.
Fast übergangslos Heinrich Ignaz Franz Bibers „Battaglia“. Die gleiche, jetzt unbedenklich barocke Neigung zum Verlassen ausgetretener Pfade. Currentzis und die dito ausgedünnte SWR-Musikerschar trieben das musikalische Schlachtgetümmel unter geräuschhafter Verwendung von Instrumenten, Stimme und Körperlichkeit (Tanz) in die Musik integrierend, in extrem lockerem Umgang mit traditioneller Harmonik und praller Musizierlust auf die Spitze. Die Geigerin Kopatschinskaja, oft mehr Medium als Solistin und stilistisch ein Muster an Indifferenz, ganz in ihrem Element.
Dann, bis auf die Verdunklung des Saals bei angeschalteter Pultbeleuchtung, der nahtlose Sprung über drei Musikjahrhunderte. In Giacinto Scelsis lyrischem Poem über den Namen der Venus, „Anahit“, zieht sich die Tonalität abermals in auf eine, die Tradition wiederum gänzlich anders verarbeitende Art in sich zurück. Die Battaglia war die Kontrast-Party zum das verseuchte Heute beschwörenden Programm. Mit Scelsi kehrt es in die depressive Gegenwart zurück. Da war dann das nur von der Theorbe und spärlichen Einwürfen einiger Instrumente begleitete Lied John Dowlands (1563-1626), es hat den schönen Titel “Weepe you no more, sad fountains” ein trübe seliges Verklingen. Currentzis und Kopatschinskaja sangen still mit Mund-Nasen-Maske. Magie des Trosts der Traurigkeit. Die Geigerin im weißen Kleid, immer leiser geräuschhafte Klänge von sich gebend, verließ mit Currentzis den dunklen Saal. Ein großer Abend. Junge Welt, September 2020