CONTRALTO.Nathalie Stutzmann.Orfeo55.

»Contralto« steht weiß auf schwarz auf rot auf dem Cover. Zentral posiert Nathalie Stutzmann in schwarzer Lederjacke mit aufgelöstem schwarzem Wuschelhaar vor neutral rotem Hintergrund. Sex sells. Auch in der Klassik. Die sexistisch einfallslose Idee könnte sich immerhin auf Stutzmanns Stimme beziehen; sie verfügt über Energien, die man mit Recht als erotisch bezeichnen darf. Zudem möchte man vielen der auf dieser CD zu hörenden Barockarien einen gewissen Sexappeal nicht absprechen.

Nun hat die Produktionsfirma Erato dem Projekt mit barocken Contraltoarien, gesungen und geleitet von der französischen Altistin und Dirigentin Stutzmann, ein Video mit auf den Weg gegeben. Auf ihm ein Barockensemble bei der Aufnahme der Händel-Arie »Mio cor, che mi sai dir?« Am Pult – das es im Barock noch gar nicht gab, aber es gab ja auch noch keine Aufnahmestudios – Stutzmann bei der Arbeit, kein Stück sexy: eine temperamentvolle Frau mit Brille in bequemem Outfit. Sie hält per Ganzkörpereinsatz die Kapelle in Schwung. Das müsste sie nicht. Wenn Stutzmann singt, kann sie nämlich nicht dirigieren, sie leitet dann sozusagen vom Mund aus, das genügt vollkommen. Ihr sie begleitendes Ensemble Orfeo 55, Männer deutlich in der Minderheit, ist wie von selbst voll auf Draht. Musik machen, wie die Kunst überhaupt, sagt uns das, ist in erster Linie Arbeit, auch wenn die Arbeit im Fall der Musik und überhaupt in der Kunst ein schönes schweres Spiel ist.

Nun präsentiert sich, seit ich denken kann, klassische Musik im öffentlichen Raum als etwas Festliches, weihevoll Entrücktes. Ich habe noch im Schwarzweißfernseher der 1960er Jahre Mozart-Konzerte erlebt, da traten die Sänger mit Perücken im Barockkostüm auf, später im langen oder halblangen Silbernen, die Herren in gehobenem Abendanzug oder Frack. Von der Decke des Studios hingen barockisierende Elektrokerzenlüster, an der Wand ovale Blindspiegel. Auf die Idee, dass all das, vor allem die Musik, im Glücksfall gelingende Arbeit war, wäre damals niemand gekommen.

Nathalie Stutzmann im Studio bei der im Schweiße ihres Angesichts gelingenden Arbeit zu zeigen – als das eigentlich Attraktive, das wirklich Werbende: Bis in die obere Schicht des Bewusstseins der Marketingverantwortlichen für klassische Musik ist das offenbar noch nicht gedrungen. Solch ein Video aber – Probenmitschnitte wie diesen gibt es inzwischen einige – geht richtige Wege.

Sehr anders als bei der Revolution besagen in der Musik die beiden Vorsilben »Contra« vor einem Instrumentennamen einfach: Es klingt besonders schön tief. Der Tonumfang von Stutzmanns Alt reicht so weit nach unten, dass sie problemlos die – schon im Barock und infolge des Wirkens historischer Aufführungspraxis auch heute – fast nur von Männern gesungenen Contraltopartien singen kann. Ihrer Stimme fehlen, könnte man sagen, die gewisse Schärfe, die kernigere Substanz und alles andere, was männliche Contraltos charakterisiert. Diese ermangeln umgekehrt der natürlichen Impulsivität, der barocken Lebendigkeit und alles anderen, was weibliche Contraltos auszeichnet und was Stutzmann in der Tat unverfälscht und frisch über die Lippen kommt.

Sie hat sich als Sängerin in den Opernhäusern und Konzertsälen der Klassikwelt seit den 1990er Jahren einen Namen gemacht. Dirigenten wie Seiji Ozawa oder Colin Davis, mit denen sie arbeitete, stehen nicht unbedingt für aufführungspraktische oder interpretatorische Erneuerung. Um so überraschender und erfreulicher, mit welch kraftvoller Selbstverständlichkeit sich diese Musikerin auch als Dirigentin in der heute hegemonialen historisierenden Barockmusikpraxis bewegt.

Eine auf hohem Niveau unterhaltsame Produktion. Barock ist nicht immer nur Bach und Kirche. Es ist Menschenwelt und Lebenswelt, prallbunte Energie von vor 300 Jahren. Von da, wo heute Deutschland ist, stammt keine der Nummern der CD. Und wie sieht’s mit Händel aus? Er war, als er die große Musik komponierte, Engländer. Mit Migrationshintergrund. Junge Welt, Januar 2021

CONTRALTO – Nathalie Stutzmann / Orfeo 55 (Erato/Warner Classic)

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