Blomstedt dirigiert Schubert Siebte.

Beim Hören der Sinfonien fällt es besonders deutlich ins Ohr. Franz Schubert hat sich vorm Abfassen seiner sieben Sinfonien bis hin zu Rossini fleißig umgehört. Das Problem blieb Beethoven. In Schuberts letzter, der achten Sinfonie ist es am deutlichsten. Aber schon in der siebten – sie wurde als „Unvollendete“ berühmt, obschon es ihr trotz der nur zwei von Schubert komponierten Sätze an nichts fehlt – wäre zu hören, wie Schubert sich an dem Übergroßen hinter und über ihm abarbeitete.

Es gibt im Netz eine Life-Aufnahme der Sinfonie in h-Moll mit den Bamberger Symphonikern, geleitet von Herbert Blomstedt, er vollendete im Sommer 2022 sein 90. Lebensjahr. Sie besticht durch den sich schon in den Basstakten der Einleitung herstellenden Eindruck: da wird ungeheuer sorgsam musiziert; gerade so, als ob nichts von allem unbemerkt bliebe, was, bis hinein in die intrikaten Kleinigkeiten dieser Sinfonie, in ihr steckt; der Musikphilosoph und Musiker Peter Gülke hat in seinem reichen Schubert-Buch einiges darüber verraten.

Bis heute rätselt die Fachwelt. Warum hat Schubert die Sinfonie nicht weiterkomponiert? Von den vielen im Umlauf befindlichen Spekulationen hat jene einiges für sich, die beider Sätze ähnliches Tempo (verhalten) anführt, sowie den leisen Dreiertakt in beiden Sätzen. Hatten sie ihm zu viel Ähnlichkeit? Nach zwei Sätzen im Dreiertakt wäre ohnehin mit dem Scherzo des dritten wieder ein Dreiertakt fällig gewesen. Aber sollte Schubert, als sein Schöpfer-Ego dem Allegro moderato im Dreiertakt ein Andante con moto im gleichen Metrum folgen ließ, nicht gewusst haben, dass er, die Konvention verlassend, in die Sackgasse steuerte?

Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll – 1. Allegro moderato

Blomstedts musikalische Auslegung lässt noch anderes vermuten: Mit den zwei vollbrachten Sätzen konnte Schubert nicht nur mit einiger Gewissheit das Gefühl haben, alles sei gesagt. Er wusste auch: in ihnen sind typische Charaktere der zwei der Konvention nach fehlenden Sätze – Scherzo und Finale – mehrfach enthalten.

Schon Haydn hatte sich bei seiner „Erfindung“ langsamer Sinfonie-Einleitungen auf die langsamen ersten Sätze der im zweiten Satz schnellen und kontrapunktischen Eröffnungen barocker Orchestersuiten bezogen. Schubert bezieht sich in der a capella-Einleitung der Kontrabässe, in den gravitätischen drei Aufwärtsschritten sowie der Terz zurück, in nicht kürzer zu fassender Konzentration, auf die nicht mehr erkennbar barock-haydnsche Art von Sinfoniebeginn. Das erste Thema hätte in seinen langen Noten das Zeug auch zum Adagio. Einerlei, es kommt in der Durchführung nicht vor. Schubert geht über Beethoven hinaus, wenn er die karge langsame Einleitung, den Sonatenhauptsatz grenzwertig strapazierend, statt des ersten Themas zur Kernmonade der Durchführung macht. Auf der Grundlage jener wenigen fahlen Bassnoten des Satzbeginns findet in der Durchführung ein Orchesterdrama statt, voll kontrapunktisch aufwallender Beethovenheroik. Kaum jemand fällt auf: das beschwingt in den Himmel schaukelnde Seitenthema fehlt ebenfalls. In Form eines eigenen Satzes hätte es, abzüglich wiederum einiger Eigenheiten Schuberts, ein herrliches Scherzo abgegeben.

Dieses Seitenthema wurde freilich noch innerhalb der Exposition sattsam durchgeführt, so etwas haben, vielleicht nicht so demonstrativ, auch schon Beethoven und Mozart gemacht. Aber einen ersten Satz in der Coda im langsamen Tempo des Sinfoniebeginns, kurz und notengleich mit dem Anfang enden zu lassen, noch dazu in eroika-affiner Trauermarschstimmung – das gab’s‘ so bei den Mitklassikern noch nicht. Da taten sich, jenseits des Sonatensatzes, ganz neue Möglichkeiten auf.

Es macht den Unterschied, wenn Herbert Blomstedt seine Musiker dazu bestimmen kann, dem neuartigen Umgang Schuberts mit dem Sonatensatz – mit den neuen farblichen, rhythmischen, stimmungsdynamischen Möglichkeiten Schuberts – eine Spannung auch dort herzustellen, wo es keinen Sonatensatz mehr gibt. Nur Fachleute mögen freilich im langsamen Satz hören, dass dieser Satz gar keine Durchführung hat. Aber eine Coda hat er, eine Apotheose des Abschieds; erst Gustav Mahler am Ende seiner 9. Sinfonie dürfte so etwas ähnlich eindrucksvoll hinbekommen haben.

Es wirkt schlüssig und logisch bei Blomstedt: dass am Ende einer Sinfonie, zumal einer mit solchen Inhalten, nicht das große Finale den Atem rauben muss. Es kann auch der leise, wehmütige Atem des Abschieds aus dem Erlebnis einer so gewaltigen Musik sein, der sinkende Abend eines langen Tages. So ist diese Aufnahme musiziert. So kommt sie an. junge Welt, Januar 2023

Schubert: Sinfonie Nr. 7 h-Moll op. 759 – Bamberger Symphoniker / Herbert Blomstedt

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