Opi Bobby

Die zweite der Großvatergeschichten

In meiner Altersgruppe, als wir Kinder waren, hatten nicht wenige keinen Großvater. Die meisten haben zwei, so ist es vorgesehen. Aber die Großväter meiner Generation, wenn sie, wie dieser eine meiner drei Großväter, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren wurden, hatten in zwei Weltkriegen und in der Weimarer Gewaltperiode dazwischen reichlich Gelegenheit, umzukommen.

Für die Familie meiner Mutter trifft das in besonderem Maß zu. Denn der Vater meines Hamburger Großvaters, ein im westpreußischen Bromberg geborener Getreidehändler, hatte den schönen Vornamen Israel. Sein Sohn – er wurde Robert Friedrich getauft, wir nannten ihn „Opi Bobby“ – hätte die sich daraus im Lauf seines Lebens ergebenden Schwierigkeiten auch gehabt, wäre die Familie in Westpreußen geblieben. Da sie aber, wie man mir erzählte, 1870/71 im Krieg gegen Frankreich durch die Belieferung des preußischen Heers mit größeren Mengen westpreußischen Weizens, unverhältnismäßig wohlhabend geworden war, packte Urgroßvater Israel seine Sachen und zog noch in den 1870er Jahren mit Kind und Kegel  nach Hamburg. Dort ließ er sich mitten im vornehmen Pöseldorf eine dreigeschossige Villa bauen. In ihrem Hintergarten, der zu meiner Zeit infolge der Umwandlung des für Pferde und Equipagen vorgesehenen Gebäudes in eine Garage mehr und mehr zum Hinterhof wurde, stand ein schlanker schöner Pflaumenbaum. Nach vorn hinaus, vor der verglasten Holzveranda, prunkte der Stolz meiner Großmutter, eine Nadelholzhecke mit einem kleinen, eckigen Springbrunnen aus Granit in der Mitte, davor ein Rosenbeet mit weißen Rosenstöcken, davor ein Stück Rasen auf dem – wir Kind liebten sie – im Frühling eine Unzahl lustiger Gänseblümchen blühte.

Der Ort meiner Kindheit. Ich war mütterlicherseits Teil einer bürgerlichen Großfamilie, die aus unerfindlichen Gründen, denn sie war gut assimiliert, in der deutschen Gesellschaft als „jüdisch“ galt. Sie wohnte, als ich mit meiner Wiege dort einzog, seit siebzig Jahren in dem dunklen alten Gründerzeithaus, unangefochten, weil steinreich, aber nie wirklich aufgenommen in Hamburgs Oberschicht.

Ich erzähle die Geschichte des zweiten meiner drei Großväter, weil sie von einem Teil des Bürgertums handelt, der sich von dem des an anderer Stelle beschriebenen Bremer Großvaters deutlich unterscheidet. Opi Bobby gehörte nicht wie jener zu den Tätern. Er war eines der Opfer. Aber es half ihm am Ende, wie sich zeigen sollte, dann doch, dass er als erfolgreicher Unternehmer unterm Strich doch auch zu den Tätern zählte.

Wie an der Mutter meines Vaters, erlebte ich auch an Opi Bobby, dass Großeltern, zumindest im Bürgertum, einen Hang zu haben scheinen, ihren Enkel*innen sich und ihr Leben zu offenbaren. Er hatte sich in den 1950ern nach dreißig Jahren Ehe von meiner Großmutter getrennt und eine seiner Angestellten geheiratet. An einem Sonntagvormittag bat er mich während eines unserer Besuche in seiner neuen Familie im Prachtneubau am grünen Rand der Stadt ganz unvermittelt in sein Arbeitszimmer. Im Kern dessen, was er mir erzählte, ging es um den Moment, als sein geliebter älterer Bruder während eines Familienurlaubs in den Südtiroler Bergen auf einer Klettertour der beiden abstürzte; Bobby war hinuntergestiegen und hatte, auf einem Felsvorsprung neben ihm hockend, das Sterben des Bruders erlebt. „Meine Jugend war beendet“, sagte er, mir unvergesslich, in einem seltsam tonlosen Ton. Er war dreiundzwanzig, als er in Chemie promovierte, danach gleich noch der Diplomingenieur. In der Familie war seine Intelligenz legendär. In dem Betrieb, der ihn nach Kanada holte, wurde der junge Mann aus Deutschland, ein brillanter Techniker, anstelle eines nichtvorhandenen Sohns in die Eigentümerfamilie aufgenommen. Im August 1914 landete er gleichwohl über Nacht als feindlicher Ausländer hinterm Stacheldraht eines kanadischen Holzfällerlagers. Zu den vielen, über ihn in der Familie kursierenden Legenden gehört die nicht gar so unwahrscheinliche, dass er, ein eher kleiner Mann, von massigeren Männern mehrfach missbraucht wurde.

Zurück in Deutschland, verdiente er mit der trickreichen Verwertung der Eingeweide toter Kriegsgeräte ein Vermögen. Er heiratete die Mutter künftiger Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, reiste mit seiner jungen Frau auf Luxusdampfern bis nach Guatemala und vergaß darüber keinen Tag, den Reizen der in seiner Firma beschäftigten Frauen nachzugehen, Näheres darüber erfuhr ich viel später überraschend aus den Akten der Gestapo. Der Großvater wollte nach all den Schrecken offenbar endlich aufholen und wahr machen, was unaufholbar ist, weil es seine eigene Wahrheit hat.

 Die Zerrissenheit infolge seines tiefen Verlustschmerzes, auch das gehört wohl zum gesellschaftlichen Sein des Menschen, wirkte auf je verschiedene Weise bis in die Seelen und Biografien seiner Nachkommen, mich eingeschlossen. Besonders betraf das seinen Sohn, meinen Onkel, und es betraf seine beiden Töchter, von denen er der jüngeren, meiner Mutter, so hat sie es der Frau meines Bruders anvertraut, irgendwann tatsächlich dasselbe antat, was man ihm in den kanadischen Wäldern angetan hatte.

Am Ende der 1920er Jahre mochte er endlich das Gefühl gehabt haben, er könne auf seine Art das Lebendigsein vielleicht doch noch irgendwie herbeizwingen – da griff die Zeitgeschichte in Gestalt des Hitler-Faschismus zum zweiten Mal in sein Leben ein, er hatte sich auf die „Rassentheorie“ der Nazis einzustellen, die Anführungszeichen doppelt bedeutsam, denn es gibt unter den Menschen weder Rassen, noch haben die Nazis je so etwas wie eine Theorie gehabt.

Von seiner in den USA lebenden Schwester besorgte er sich für viel Geld gefälschte Papiere, die ihn als „Halbjuden“ auswiesen. Seine Kinder, da meine Großmutter in der Vulgärzoologie der Rassisten „arischer“ Abstammung war, wurden mithin zu „Vierteljuden“ (ich selbst wäre – frei nach Hans Globke – gegebenenfalls als „Achteljude“ eingruppiert worden).

Als der Großvater 1938 denunziert, am 21. April ins Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis eingeliefert und wegen „Rassenschande“ angeklagt wurde, blieb zunächst unklar, wie die Nazi-Richter den Wahrheitsgehalt jener US-Papiere bewerten würden. Ich begreife bis heute nicht, warum ich von der Fortsetzung der großväterlichen Offenbarungen aus erster Hand nichts mehr wissen wollte, nachdem das Mittagessen, das sie unterbrach, beendet war. Ich entnahm Opi Bobbys weiteres Schicksal erst viele Jahre später fünf schweren Aktenordnern, in die mich zu vertiefen, mir das Hamburger Staatsarchiv gestattete.

Darüber, was ihm während des dritten Reichs widerfahren war, existierten in der Familie mehrere Versionen. Alle gingen davon aus, er sei als „Rassenschänder“ nach Verbüßung der Haft im Zuchthaus Fuhlsbüttel am Tor von der Gestapo abgeholt und umgehend ins Konzentrationslager Neuengamme überstellt worden. Aber während die einen meinten, er sei dort in den Wirren der englischen „Terrorangriffe“ 1943 geflohen und habe, versteckt im Kirchturm eines Pastors in Niendorf, überlebt – erzählten die anderen, er sei auf dem Transport von Neuengamme nach Auschwitz bei einem Angriff polnischer Partisanen befreit worden und habe in deren Obhut das Kriegsende in den polnischen Wäldern begrüßen dürfen, ja, man munkelte, er habe bei dieser Gelegenheit seinen späteren Schwiegersohn kennengelernt, den Mann der Schwester meiner Mutter. Der war mitsamt der Tante nach dem Krieg nach Paraguay ausgewandert. Das Warum wird deutlich, wenn man erfährt, dass er ein Mensch war, von dem in der Familie erzählt wurde, er habe unter den bewundernden Blicken seiner Frau stets mit einem Revolver unterm Kopfkissen geschlafen; seine Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London dürften exzellent gewesen sein.

Der Prozessbeginn war für den 1. September 1939 anberaumt. Merkwürdigerweise beschied das Gros der zumeist in Führungspositionen beschäftigten Zeugen das Gericht vorab so umständlich wie nebulös dahingehend, dass sie just an diesem Tag wie zufällig anderweitig unabkömmlich waren. Der Prozess musste verschoben werden. Denn am 1. September 1939 waren die Herren allesamt mit etwas beschäftigt, das ihr Führer mit Blick zunächst auf Polen „Zurückschießen“ nannte.

Man verhandelte anfangs wegen „Rassenschande“. Den Akten lagen umfangreiche, mit Blaustift korrigierte und sorgfältig gelochte Altpapierblätter bei, die Gestapo hatte die Verhöre der weiblichen Angestellten des Angeklagten minutiös aufgezeichnet. So detailliert hätte ich über das Sexualleben meines Großvaters gar nicht unterrichtet sein wollen, es war skurril. Die Frage der US-Papiere, die, wären sie anerkannt worden, den Hauptteil der Anklage ihres Gegenstands beraubt hätten, blieb weiter in der Schwebe. Bis der Großvater sich eines Tages eines guten Freundes entsann, der im Gründerzeithaus in Pöseldorf fleißig verkehrte, weil er ein Auge auf meine Großmutter hatte, ein Anwalt und Geschäftsmann namens Gerd Bucerius. Keine Ahnung, was da lief, ich war ja noch nicht da. Aber die Art, wie er ihr den Hof gemacht haben muss, hat meine Großmutter, noch als „Butz“ als ZEIT-Verleger längst außer Reichweite war, zu Worten aufrichtigen Entzückens hingerissen.

Wie auch immer. Bucerius übernahm die Verteidigung und sah mit einem Blick, was zu tun war. Im Moment, da er dem Gericht klarmachte, dass der Großvater nicht nur Sekretärinnen nachgestellt, sondern hauptberuflich für die Firma Rheinmetall gearbeitet hatte, wurden die US-Papiere anerkannt, die Stimmung im Gerichtssaal kippte. Man verhandelte „nur“ noch wegen des ursprünglich zweiten Delikts: Opi Bobby hatte all die Jahre, mit Wissen und Einverständnis des Reichswirtschaftsministeriums – seine Art von Lebensversicherung? – in Mittelamerika für die Firma Rheinmetall Granatwerfer und Mörser verkauft.  Das war zwar selbst für nichtarische Kaufleute legal. Aber man war ihm draufgekommen, dass er die Gewinne zu großen Teilen nicht in Hamburg, sondern in New York versteuert hatte – ein in der Welt des Eigentums unverzeihliches Devisenvergehen.

Ist es nicht erstaunlich, wie bis in Einzelheiten die allgemeine Geschichte ins Leben weitgehend unscheinbarer Durchschnittsmenschen hineinzureichen vermag? Und als wie undurchschnittlich bei näherem Hinsehen sich sehr viele Menschen* erweisen?   Auf Anfrage teilte mir in den Nullerjahren ein hilfreicher Staats-Archivar mit, dass die Haft meines Großvaters, die „mit einer Strafhöhe von 2 Jahren und 6 Monaten, bis zum 19.02.1943 dauern sollte“, verkürzt worden sei. „Ein Gnadenerweis ließ ihn am 25.09.1940 vorzeitig aus der Haft frei, nachdem sein Anwalt Gerd Bucerius unter Mithilfe namhafter Fürsprecher sich für seine Entlassung unter Zahlung einer nicht unerheblichen Kaution eingesetzt hatte. Nach dem Krieg wurde die Haftstrafe offiziell auf die bereits abgesessene Strafzeit reduziert, jedoch nicht völlig aufgehoben.“ Auf die Frage, wie es ihm die knappen vier Jahre nach der Haftentlassung ergangen sei, erfuhr ich: „Seine erhalten gebliebene und hier ebenfalls verwahrte Entnazifizierungsakte weist nach seiner Entlassung aus der Haft die für viele Personen jüdischer Herkunft erzwungene Verpflichtung zur Verrichtung von Zwangsarbeiten nach, die auch Ihr Großvater für Oktober 1944 angab. Ob in der Akte doch noch Hinweise auf Flucht oder Verstecken, wie in Ihrer mündlichen Familiengeschichte erwähnt, enthalten sind, können Sie oder eine beauftragte Person durch eine sorgfältige und persönliche Einsichtnahme sicher leicht feststellen.“

Das habe ich. Von Flucht und Verstecken nirgends eine Spur. Die Sache hatte, was das Bürgertum angeht, eine kleine Pointe. Denn Opi Bobby war in der Wahl seiner zweiten Frau an die Unterklasse geraten, sie war ein Arbeiterkind. Robust und realistisch, hatte sie, wenn wir zu Besuch waren, bei aller Unsicherheit, stets einen spöttischen Zug um den Mund. Das muss es gewesen sein, was ihn auf seine alten Tage reizte. Seine Gattin und noch viel mehr die im Haushalt der Tochter untergekommene Schwiegermutter, eine alte Arbeiterfrau im geblümten Kunststoffkittel wie von Brecht erfunden, nahmen ihn nicht ernst, sie lachten ihn aus. Sie lebten von ihm und durchschauten ihn zugleich und erreichten auf diese Weise, ohne sich zu verstellen, einfach sein Herz.

Aber Opi Bobby wäre nicht bis zuletzt er selbst gewesen, hätte er der Pointe nicht noch eine weitere hinzugefügt. Seine eigentlich schon deutlich jüngere zweite Frau fand, als sie während eines ernsten Krankenhausaufenthalts Bobbys in dessen Arbeitszimmer aufräumte, ein Tagebuch. Sie erfuhr auf diese Weise, dass er seit Jahren einer noch viel Jüngeren eine Eigentumswohnung, einen Sportwagen und sonst noch einiges geschenkt hatte, um sie regelmäßig aufsuchen zu können. Damit konfrontiert, als er wieder Zuhause war, geriet er in einen so großen Zorn, dass er sich den Sommerhut griff und in der nicht nur für sein Alter enormen Sonnenhitze so lange durch die Landschaft marschierte, bis eintrat, was seinem Dickkopf vermutlich vorgeschwebt hatte: ein letzter tödlicher Schlaganfall. Er verstarb achtzigjährig exakt im heißen Sommer 1968. Junge Welt, August 2021

Rauch über der Wiege. Die erste der Großvatergeschichten (2021)

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