Bryce Dessner.ER.Tenebre.

Der Dirigent Teodor Currentzis verriet mir einmal, Klassikmusiker seien irgendwie neidisch auf Rock’n Roller. Die seien ehrlicher. Sie gäben offen zu, sie wollten vor allem eines: ihr Publikum begeistern.

Das gelingt dem US-amerikanischen E-Musik-Komponisten Bryce Dessner schon darum so überzeugend, weil er von Haus aus Rockgitarrist und Songwriter ist. Schon in den dahinrasend rhythmisierten ersten Takten von „Aheym“ am Beginn der neuen CD mit seinen Werken spürt frau und man – Kraftmusik. „Um ehrlich zu sein“, sagte der Elbphilharmonie-Residenzkünstler von 2017, nachdem er das Hamburger Ensemble Resonanz (ER) gehört hatte, „die Energie und Präzision der Gruppe war schon irgendwie schockierend.“ Er übertrieb nicht, er arbeitet seither mit ER. Das Ensemble spielt Dessners Musik auf der neuen CD.

Dessner ist nach wie vor Teil der mit seinem Bruder Aaron gegründeten New Yorker Indie-Rockband „The Nation“. In seiner Musik allerdings: Philipp Glass, Steve Reich und wenig von – Gott schütze sie! – Bands wie „Sonic Youth“ oder „The Strokes“. Minimal Music nicht als Vorbild, aber als ferner Ausgangspunkt, als individuell eingerichtetes Fundament. Dessner füllt die Endlos-Repetitionen der Minimal-Gründer mit der Kraft des Rock’n Roll und einer harmonischen und rhythmischen Unterhaltsamkeit und Unabhängigkeit, die aus dem Bedürfnis nach intellektueller Abwechslung kommt, aus allgegenwärtiger Inspiration und dem unzerstörbaren Charme, der düsteren Larmoyanz rebellischer Jugend. Er vermarktet nichts. Er schummelt sich nicht einträglich durch, er ist kein Populist. Aber fähig zu einer Popularität ohne Design und schräge Moden. Stoff nur für den kritischen Teil des Publikums liefert.

Ein gebildeter Musiker. Dessners Fantasie hat einen musikgeschichtlichen Horizont, sein Komponistenblick kann schweifen. Aber seine Musik mag sich wenden, wohin sie will, sie bleibt in all ihrer tonalen Konventionalität in jedem Ton Kunst der Zeit, in der sie entsteht. Assoziationen zum Aussuchen. „Tenebre“ etwa entfaltet die farblich-räumlich-dynamische  Wirklichkeit einer zwanzigköpfigen Streichergruppe in einer Weise, die uns Heutigen die Faszination vor Ohren führt, die die Zuhörerinnen einer Beethovensinfonie der „heroischen Periode“ erlebt haben müssen. Im selben Stück werden aus minimalistischen Schemata sphärenhafte Schemen. Für mich taucht bei 2’30“ Mendelssohn auf, er kehrt bei 8’02“ mit einer Art Streicherfuge wieder, die mich spontan an die bei Dessner zwar nicht mehr elegante, aber immer noch klassizistische Klarheit der frühen Streichersinfonien Mendelssohns erinnert. Sie endet morgenländisch – auch solche Idiome beherrscht das fabelhafte ER – und mündet erneut in eine von der sciarrinohaft konzertierenden Geige geweihte Flageolette-Welt, in die ein gezupftes Cello rhythmisierend eingreift. Umsonst.  Die

Aheym

Musik macht sich auf sattem Bassfundament von jeder Erdenschwere frei, sie will hinauf, gen Himmel. Aber dort wartet Moses Sumneys elektronisch verstärkte Herz- und Kopfstimme 3.0. Sie gleicht sich den Streichern an, mischt sich. Aber die Reise, geht nicht zum lieben Gott, sie will ins Psychedelische. Kein „Credo“ und „Cruzifixus“ am Schluss des „Tenebre“. Es läuft auf etwas wie die Stimmung am Ende von John Lennons Song „A day in the life“ aus dem legendären „Seargent Pepper“-Album hinaus. Noch im Streichtrio „Skrik“ hat Dessners Musik einen motivisch wie klanglich hinreißend inspirierten, von Barbara Bultmann (Geige), Tim-Eric Winzer (Bratsche) und Saerom Park (Cello) vollendet inszenierten Impuls von Gegenwart. Die neben außergewöhnlichem Können große Vehemenz und Dringlichkeit, in der hier komponiert und musiziert wird ermuntert dazu, die Welt infrage zu stellen: In ihr wie in Dessners Musik ist etwas, das das – renditegetrieben immer dürftigere – Leben nicht bloß erhalten will, sondern endlich wirklich ermöglichen.

Bei allem Zeug zu besten Chartplätzen traut man Dessner zu, unabhängig zu bleiben. Nicht nur wegen der Qualität. Mehr noch der Kraft seiner Musik wegen, die sich seltsamerweise nicht mehr der musikalischen Urwurzel Volksmusik zu verdanken scheint, sondern der Minimal Music. Deren Erfinder, erfährt man dann allerdings beim näher Hinschauen, fühlten sich neben allerhand anderem vor allem von fernöstlicher Volksmusik (Gamelan) angeregt. Der späte Kolonialismus versorgt das transatlantische Abendland bis heute offensichtlich nicht nur mit dem materiellen Reichtum anderer Weltgegenden. Junge Welt, Oktober 2019

Brice Dessner: Tenebre – Ensemble Resonanz (Resonanzraum Records / Harmonia Mundi).

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