Uns Uwe.

Mit Klassenstandpunkt ist bei ihm nichts zu holen. Aber er kam tief aus der Arbeiterklasse. Sein Vater Erwin Seeler lebte und kickte im klassischen Hamburger Proletenstadtteil Rothenburgsort für den Arbeiterverein SC Lorbeer.  Sein Sohn wuchs gleichwohl im bürgerlichen Stadtteil Eppendorf auf, den die britischen Bomber 1944 weitgehend verschont haben, während Rothenburgsort in seiner Ursprungsgestalt heute nicht mehr existiert.

Das heißt, Uwe Seeler, als Fußballer das Idol, die Ikone, der Volksheld schlechthin – er ist am 21. Juli 2022 im 86. Lebenjahr zuhause in Norderstedt friedlich eingeschlafen – war der Sohn eines klassischen „Arbeiterverräters“. Denn „Old Erwin“ hatte sich, einem in der Folge triumphierenden Trend gehorchend, dem Bürgertum für Geld angedient und war schließlich 1938 beim bis heute in jedem Sinn bürgerlichen Hamburger SV gelandet.

Es entbehrt nicht nur nicht der Ironie, sondern spricht für diesen Uwe Seeler, dessen Vornamen wir alle stets mit dem besitzanzeigenden Fürwort „uns“ ergänzten: Dass er zwar auch durch seine Fall- und Seitfallrückziehertore, seine, in singulärer Weise per Kopf erzielten Treffer berühmt und legendär wurde. Dass er sich aber buchstäblich unsterblich gemacht hat allein durch einen sagenhaft realen Krokodillederkoffer aus Mailand. Gegen den Vater, gegen die Logik des Systems, dem er zeitlebens brav gedient hat, das indessen, das System, seinen Sport per Gigakommerz bei noch relativ lebendigem Leib längst hingerichtet hat, versagte sich uns Uwe 1961 dem Millionengeld in jenem italienischen Koffer. Der Trainer Helenio Herrera von Inter Mailand, der Uwe für damals unfassbar viel Geld unbedingt die Trikot-Nummer 9 seiner Weltklasse-Mannschaft verpassen wollte, kehrte mit dem vollem Lederbehältnis über die Alpen zurück.

Uwe hat seine Klasse nicht verraten. Er blieb zeitlebens – durch seine explosiv zuverlässige Kämpfernatur, seine Bescheidenheit, seine Konsequenz als Sportler – ihr Kind. Sie hat es ihm zig-millionenfach gedankt. Ich hatte das Privileg, ihn, als ich sechs war, oben auf dem mit frisch ausgedienten U-Bootnetzen aus dem Hafen versehenen Zaun der zur Johanniskirche hin gelegenen Kurve des alten HSV-Platzes am Rothenbaum sitzend, als Sechzehnjährigen Mittelstürmer in der Regionalliga-Mannschaft seines Vereins zu erleben. Seine Tore im Samstagabendlicht des Volksparkstadions, als es noch nicht „Arena“ hieß und ein regensicheres Dach nur über den Sitzplätzen der einen Längsseite hatte, haben mich in der Schulzeit um Welten mehr erfüllt und begeistert als etwa die Lektüre Goethes.

Sein Tor mit dem Hinterkopf in jenem Hitzespiel in Mexiko, das die Revanche darstellte für die auf einem nicht wirklich gefallenen Tor basierende Niederlage von 1966 hat nicht nur den in beide Spiele involvierten Bobby Charlton noch Jahrzehnte später völlig ratlos hingerissen.

Dennoch: der eine Mensch, der jetzt am Ende bescheiden und zugleich recht resolut auf sich aufmerksam gemacht hat, was seine Rolle im Leben Uwes angeht – seine Gattin Ilka – hat recht: die Sache mit dem Koffer wäre möglicherweise ganz anders verlaufen, hätte der Trainer Herrera an jenem Nachmittag im noblen Hotel Atlantik getan, was man eigentlich immer tun sollte: sich auch an die Frau des Kandidaten wenden. Gott sei Dank war er Macho genug, sie gar nicht erst dazuzubitten. junge Welt, Juli 2022

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