Es ist dieser eine Komponist. Nur dieses eine Stück von ihm. Es ist sogar nur der größte der drei Teile dieses Stücks, nämlich das nach Einleitung und so kurzem wie feierlichen Adagio erreichte Fugenthema aus Bachs Toccata c-Moll BWV 911. Es spielt der Italiener Luca Guglielmi auf einem von der Zerbster Klavierbaumeisterin Kerstin Schwarz restaurierten Cristofori-Flügel aus der Bachzeit.
Es beginnt acapella mit den recht apodiktisch hervortretenden drei Tönen eines Dreiklangs abwärts, deutlich hervorgehoben die Terz als mittlerer Ton. Aber gleich im Fortgang der Melodie erhebt sich, immer noch begleitungslos, im dritten Takt die Quinte überm Grundton, ein Sekundsprung nach oben und die Stimmung verändert sich. Es züngelt Lebenfreude durch den beginnenden Kontrapunkt. Da spielt jemand mit Terz und Quinte, umspielt sie – und die für zwei Takte so aufrecht voran marschierende Musik beginnt zu tändeln und zu tanzen. Dass es sich bei alldem um eine Fuge handelt, also um die von Bach zu unendlich rationaler Schönheit gesteigerte Hochform des Barock, hat man zu diesem Zeitpunkt des etwa neun Minuten langen Stücks längst vergessen.
Die in c-Moll ist eine besonders aufmöbelnde unter den sieben Toccaten des jungen Bach. Der am Beginn noch recht feste Ton des Dreiklangs gerät mehr und mehr in den spielerischen Fluss eines munteren Geschehens. Das Dreiklang-Motiv und der folgende Quintsprung und was sich aus ihm ergibt, werden zu federleichten Katalysatoren einer Art Reigens um so lustiger und leichter, als es sich klammheimlich nach noch nicht der Hälfte ein drittes Fugenthema in den Lüften über dem Geschehen gut sein lässt . Fröhliche Leute aus dem Volk, so höre ich es, fassen sich da unter und singen auf eine zum Mitsingen provozierende Art, sie tanzen dazu, wie im Volk üblich, in so ansteckenden Bewegungen, dass eins auf der Stelle mittanzen möchte, so ähnlich wie die Griechen mit ihrem Sirtaki.
Der junge Bach war Orgelspezialist, er arbeitete als Stadtorganist in Arnstadt und Mühlhausen und als Konzertmeister am Hof von Weimar. Die Orgel war das Kircheninstrument. Die Toccata eine zwar von strengen Regeln weitgehend freie, sich aber doch allein aus dem Kirchenmusik-Repertoire bedienende Form der Orgelkomposition. Bach erprobt, indem er von der Orgel aufs Clavier wechselt, in den sieben Clavier-Toccaten, wie weit sich irdisch-menschliche Dinge mit sakralen Mitteln abhandeln lassen. Man hat zur Bachzeit für diese Fertigkeit das heute knapp anders besetzte Wort „Parodie“ verwendet. Bach bediente sich des Parodie-Verfahrens unzählige Male, von geistlich zu weltlich und umgekehrt. Beides war überraschend austauschbar.
„Damit hängt zusammen, dass Bach hier so ursprünglich und unbedenklich, so enthemmt-persönlich musiziert“, schreibt der Musikwissenschaftler Werner Oehlmann. In Bachs „kontrapunktische(r) Fülle“, stellt Heinrich Besseler an anderer Stelle fest, entsteht die „Selbstentfaltung einer gleichsam ohne menschliches Zutun dahinströmenden Musik“. Gerade so klingt es, wenn Guglielmi diese Toccata spielt. Ein musikalischer Reigen als dahinströmender Fluss sinnvoll zugewandten Lebens. Der Reigen ergibt und speist sich aus der anfangs ein wenig wie Dualität erscheinenden Dialektik von „ernstem“ Dreiklang-Motiv und der Wendung ins Heitere nach dem Quintsprung. Sie garantiert die formale Einheit des Stücks, bringt es, vielfach und kunstvoll figuriert, in allen Lagen, Tonarten und rhythmischen Wechseln, immer neu in Fahrt.
Die Fuge wird häufig mit dem Wort „gelehrt“ assoziiert. In den kontrapunktischen Kunststücken Bachs in dieser Toccata dagegen lodert die Gelehrsamkeit als fröhliche Wissenschaft, sie tanzt ihrem schlechten Ruf auf der Nase herum und freut sich, sich endlich auch einmal von ihrer besten Seite zeigen zu können.
Die Autoren-Seele gerät ins Schunkeln beim Hören, es rockt sie Bachs betörend leichtfüßiger Kontrapunkt. Das alles hat den Schwung des klassischen Tanztaktes, des Dreiers, aber es ist ein stinknormaler Vierer, mit einer allerdings starken Betonung der Zwei.
Aus den jugendlichen Gedanken eines der ganz Großen entstehen hier Töne. Sie dringen als von Musikerhänden mittels hölzern-metallener Materie erzeugter Schallwellen an unser Ohr. Aus abstrakten Zeichen auf Papier werden Frequenzen, aus ihnen Gefühle. Ein Wunder.
Im Fall dieser Aufnahme kann man die Gefühle sogar eingrenzen, es entstehen bestimmte Gefühle, denn niemand wird diese Toccata traurig stimmen. Es ist Musik, die Mut macht. Ein Reigen der Unbeschwertheit. Es ist wahrscheinlich genau die Sorte Musik, die der vom jungen Jägersmann totgeschossene arme Kuckuck aus dem Volkslied hört in dem einen Jahr, das er braucht, bis er wieder da ist. Junge Welt, Dezember 2020
J. S. Bach: The Early Pianoforte – Luca Guglielmo spielt Bach auf frühen Clavieren von Cristofori und Silbermann (Piano Classics)