Schon das Coverbild. Aus dunkelbraunem Grund lässt Paul Klee Grün bis Gelb und Ocker Ölfarbenkerzenblumen und nirgendhin zeigende rote Pfeile aufleuchten und glühen. Sie tauchen wie organische Gebilde aus harmonischem, melodiösem Klang hervor aus dem dunklen Grund des Basses in einem von Johann Sebastian Bachs musikalischen Wegweisern und Leuchttürmen in die europäische Musik der Neuzeit – dem Wohltemperierten Clavier.
Der Cembalist Andreas Staier hat sich, nachdem er Ende 2021 das schwierigere, vielfältigere und vielgestaltigere zweite Buch des aus zwei abgeschlossenen Zyklen bestehenden Jahrtausendwerks vorlegte, das erste Buch vorgenommen: ein Himalaya des Tastenspiels, erreichbar nur jenen, die den Gipfel auch ohne musikalisches Sauerstoffgedöns und ähnlichen Schnickschnack schaffen.
Das eröffnende, irgendwie schon ganz schön populäre Präludium C-Dur ertönt in der armesünderhaft nüchternen Klangschönheit des Lauten-Zugs in Staiers französischem Nachbau eines Instruments des Hamburger Cembalo-Bauers Hieronymus Albrecht Hass vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Bach stellt in regelmäßig gebrochenen C-Dur-Akkorden das Ausgangsmaterial des folgenden Baus aus 24 Präludium-und-Fuge-Doppelmolekülen vor. In ihnen durchmisst er das von ihm mit diesem Werk für die Musik kommender Jahrhunderte geschaffene Tonuniversum als dem nächsten Epochenschritt nach der Choralpolyphonie der Renaissance; erreichbar, das Tonuniversum, über 24 chromatische Tonleitern in Dur und in Moll in allen Seelen- und Weltschattierungen. Am Anfang aber das Einfachste, die vorzeichenlose Tonart C-Dur, nicht mehr und nicht weniger.
Nun Staier hörend, fällt es einem wie Chopin von den Ohren: das von Bach gemeinte Weniger (das selbstredend in Wahrheit das Alles ist) ging schon vor langer Zeit in einem romantisch ausdrucksbeflissenen, einem – Bachs scheinbares Weniger unterschiedlich raffiniert, es meist aber besinnungslos-aufgebrezelt präsentierenden – Mehr unter. Das Idealinstrument für diese Methode war für knapp zwei Jahrhunderte der moderne Konzertflügel. Staier, Hieronymus Albrecht Hass im Rücken, trumpft auf dem wahren Idealinstrument – Bach hat es dem aufkommenden Hammerflügel vorgezogen – mit der Alternative auf: dem entschwulsten wahlweise entmonolithisierten, dem entsentimentalisierten, kurzum, mit dem von der Romantik befreiten Bach.
In Staiers Verzierungen am Ende des formgerechten Anfangspräludiums pulst erstmals die Spielfreude dieses Clavieristen, beflügelt von der souveränen Beherrschung flink sensibler Finger – die Verzierungen, bei ihm fungieren sie, keineswegs marginal, als galante Stromstöße der Lebenslust. Die erste Fuge in C wird von Staier als das präsentiert, was sie mit vielen anderen Stücken des Wohltemperierten Clavier tatsächlich ist: tönendes Lehrbuch; auf dem Hass-Cembalo ist es, als höre eins im Zugleich der Kontrapunktik Bachs im selben Moment jede Stimme einzeln, so anschaulich wirkt die differenzierte Registerfarbigkeit des Instruments. Es folgt an vier das erste Moll-Stück. Dramatik pur. Das Instrument lässt, vergleichbar der Farbigkeit des CD-Covers, chromatisch maschinenhafte Muskeln hören.
In der Fuge cis-Moll an achter Stelle zeigt das Instrument in Staiers Händen, wie in einer als Choral eines strafenden Gottes beginnenden Fuge eine harmlose Überleitung zur Spielfigur wird, die als fünfte Stimme den Ausdruck der ganzen Fuge in ein verspielt Lebensfrohes verwandelt, ohne dass das schwere, abwärts schreitende Choralthema ganz in Vergessenheit geriete.
Das „Alte Testament der Musik“ hat Hans von Bülow das Wohltemperierte Clavier genannt. Das stimmt nachseiten sowohl der Orte des Geschehens – vom Konzert im Lustschlösschen bis hin zum klampfenbegleiteten Volkslied in den Katen der Bauern –, als auch im Hinblick auf die Erzählweise und den Vortrag: vom improvisatorischen Präludieren (im hohen Orgelklang des Cembalo!), von den vielen neuen Wegen der Fuge von der strengen Form zum lebensvollen Inhalt, bis hin zum brillanten, glitzernd virtuosen Concertino und den vielen, von unten herauf bis in die Paläste vorgedrungenen Volkstänzen der Barockepoche. Das tummelt und ordnet und vergewissert sich seiner selbst im Wohltemperierten Clavier wie auf einem breughelschen Wimmelbild.
Andreas Staier zieht in dieser neuen Aufnahme alle Register seines Könnens, seiner Kunsterfahrung, seiner Belesenheit und Begabung. Er muss den Ausdruck nicht vermitteln – der Ausdruck ergibt sich bei ihm aus der Form, der Ausdruck ist die Form. Eine hochwohlgeborene Erfrischung der Diskographie, eine Großtat. junge Welt, Februar 2023
J. S. Bach: Das Wohltemperierte Clavier 1 – Andreas Staier, Cembalo (Harmonie Mundi France)