Zur neuen Aufnahme von Bruckners 3. Sinfonie (1. Fassung) d-Moll mit dem Kölner Gürzenich Orchester und Francoix-Xavier Roth stellt sich spontan die Frage: die wievielte Aufnahme in einer schier endlosen Reihe ist das? Anton Bruckners Dritte, 1873 komponiert, hatte von allen schweren Geburten dieses schwerstseltsamen katholischen Junggesellen die allerschwerste. Sie war, schon in der 2. Fassung 1877, bei ihrer Uraufführung, Bruckners größter Misserfolg. Keine andere wurde vom Urheber so oft geändert, so herrlicher Seiten beraubt. Keine andere, so meint man mit der neuen Aufnahme aus Köln zu verstehen, hat diese Kürzungen (von 2056 Takten auf 1644) so wenig vertragen wie die Dritte. Hätte Anton Bruckner sich selbst doch mehr vertraut als dem lieben Gott und allen möglichen Leuten, er hätte die erste Version, nennen wir sie: seine Version in Form und Länge belassen, unerschütterlich, so, wie sie der Franzose Xavier Roth dirigiert.
Unerschütterlich vor allem hinsichtlich der Zeit, das ist in der Musik zugleich ihr Raum. Bei Roth dauert allein der erste Satz 23 Minuten. Das wirkt nur deshalb nicht als zu groß und zu lang, weil es durch Generalpausen, die in dieser Aufnahme besonders tief atmen, in Blöcke unterteilt ist; die Architektur wird erkennbar. Aus Sicht des Komponisten ist es nicht nur der völlig bedenkenlose Verbrauch an Notenpapier, es „ist der völlig unbekümmerte Umgang mit dem Faktor Zeit“ (Klaus Schweizer), in dem Bruckner in der Dritten schwelgt.
Das lässt an einen schreibenden Landsmann des Österreichers Bruckner denken: Auch Adalbert Stifter – neunzehn Jahre älter als der, lebte er noch, heuer seinem 200. Geburtstag entgegensehende Komponist – lässt auf seine Weise die Zeit verschwinden. Beide landschaften gern. Nach eigenem Bekunden war es dabei Stifters Bestreben, „das Große im Kleinen“ zu erfassen, da geht Bruckner andere Wege. Er liebt die rhythmisch großräumig unterhaltsamen Steigerungen ins Große und Größere; auch das Liebliche, das zärtlich Kleine kommt nicht zu kurz, nicht die Idylle und nicht die Gaudi, die Trauer des Volkes inmitten vieler Land- und Leidenschaften.
Nun nimmt sich aber Xavier Roth – wie jederzeit Stifter – alle Zeit, den Finger auf das Kleine in den Noten, auf jedes Linden- und Birkenblatt, jede Christrose, auf jedes Bächlein, jeden Granitblock der Partitur Bruckners zu legen. Blicke in Bruckners Karten. Roth trennt den Klang der Hörner vom Klang hegemonialer Trompeten, er macht die ganze Farbenbracht der Akkorde Bruckners – mit ihren vielen „unpassend“ neuen Tönen –; macht das Rollenwechselspiel der Streicher und der ungemein präsenten Blechbläser des Gürzenich Orchesters hörbar und spürbar.
Der im Zenit stehende Richard Wagner, dem die Dritte gewidmet ist, erkannte die Qualität dieser Sinfonie auf einen flüchtigen, gönnerhaften Blick; ihm bietet ehrfürchtig Bruckner in seiner Erstfassung in den folgenden Fassungen gestrichene Wagnerzitate dar.
Auch der Beginn von Beethovens Neunter in gleicher Tonart wie Bruckners Dritte pianissimo, seine gebrochenen Akkorde, seine Orchester-Dramaturgie klingen an, ohne populär erkennbar zu sein. Xavier Roth konzentriert sich auf Bruckner, der an Wagner spät aber eruptiv eine Freiheit gewann, die er ganz in seiner, in Bruckners Art zu nutzen wusste: die Höhepunkte etwa seiner Tutti, so mag man Roth hören, sind nicht zur Überwältigung bestimmt. Sie dringen als sorgfältig und liebevoll und voller Musikspaß Gearbeitetes in Ohr und Kopf, erst dann ins Herz. So macht es Laune, unterm Harnisch der Blechbläser des Gürzenich Orchesters die Triolen oder – im Adagio – die Sechsachtelketten der Lebensfreude in den Streichern glitzern zu hören oder die „filigrane Polka“ (Volker Hagedorn) im Finale wahrzunehmen, die unter einem „fiktiven Choral“ dahintanzt, und es macht Spaß, wenn sich dieselbe Musik im Adagio und anderswo als zwei Halbe wahlweise sechs Achtel zählen lässt.
Es zahlt sich aus, sich Zeit zu lassen für alles was gut werden soll. Da wären wir wieder bei Adalbert Stifter. Und wären freilich auch utopisch weit von der Gegenwart weg. Im Anschluss an sie täte das angenehme gelegentliche Aufgehen im Ablauf der Zeit wahrscheinlich jederzeit allen recht gut.
Bruckner: Sinfonie Nr. 3 d-Moll (1. Fassung) – Gürzenich Orchester Köln / Francoix-Xavier Roth (myrios classics).