Es gibt Dirigenten, die können in einer Musik ein Leben erwecken, das gar nicht in ihr ist. Giovanni Antonini ging den langen Weg vom erfolgreichen Solisten auf der Barockflöte, über die Gründung der ersten italienischen Kapelle auf alten Instrumenten, Il Giardino Armonico 1985, bis er seit etwa zwei Jahrzehnten zum originellen Gestalter von für Orchester geschriebener Musik von der Renaissance bis zu – soweit auf Tonträgern zu erhaschen – Beethoven wurde.
Er hat sich vor Jahren auf eine lange Reise begeben. Alle 104 Sinfonien Joseph Haydns (1732-1809) will Antonini bis 2032 aufgenommen haben, bis zum 200. Geburtstag des als „Vater der Wiener Klassik“ geltenden Komponisten. Und natürlich haben sich von Anfang des Projekts bis zum gegenwärtigen Stand allerhand Fachleute gefragt: Ob das, was dieser Italiener da mit Haydn veranstaltet, noch hinnehmbar ist? Denn Antoninis Haydn unterscheidet sich auf im positivsten Sinn erschreckende Weise in fast allen Belangen von einer langen Haydnkonvention.
Man nahm Haydn sehr lange nicht für voll, man tut das manchenkopfs bis heut nicht. Man ließ anstelle der im Programm angekündigten Haydn-Werke flache Gesellschaftsmusik aus einer Vergangenheit erklingen, die sowieso niemand näher interessierte; ihre Harmlosigkeit schien durch den großen Namen Haydn verdeckt und gedeckt. So noch zu erleben selbst bei Aufführungen der beiden Haydn-Oratorien „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“, lange Zeit Haydns Allzeit-Boxfavoriten. Haydn wurde als „Wegbereiter“ gehandelt, mit einer extrem kleinen Auswahl aus seinem Riesenwerk. Aber er war nicht der Wegbereiter. Er war der Weg. Der Eindruck gefälliger Harmlosigkeit seiner Werke kam nicht aus den Noten, er kam aus den Instrumenten jener, die unkritisch einen langlebigen Zeitgeschmack bedienten.
In der inzwischen gutgewachsenen Literatur auch über Haydn ist zu erkennen: Er war das produktive Nadelöhr neuerer europäischer Musikgeschichte. Seine Musik wurde zum „ächten Fundament“ (Haydn) modernen Denkens in Tönen. Zum monadischen Kompressor und Aggregat für die Entwicklung von der Choralpolyphonie der frühen Renaissance bis zum Barock und zur Mannheimer stamitzschen, wahlweise der norddeutsch carl-philipp-emanuellen Vorklassik, nicht zu vergessen das musikalische Völkersprachengemisch Panoniens, der südosteuropäischen Heimatregion Haydns. Für Ludwig Finscher, einen, obschon er historisches Denken ausschlug, klugen und gründlichen Haydn-Forscher, hat Haydn „die Grundlagen der Musikkultur des 19. und weiter Teile des 20. Jahrhunderts“ gelegt, er entwickelte „eine europäisch verbindliche Sprache der Musik, vor allem der Instrumentalmusik“.
Man stelle sich vor. Einer der ganz Großen der Musik kam vom Dorf. Ein Hof mit Werkstatt am Ufer des Neusiedler Sees in Rohrau, heute Burgenland, Republik Österreich. Die Stellmacherfamilie Haydn fertigte dort seit Generationen Wagenräder und allerlei hölzernes Landgerät. Spärlich die Quellenlage. Wer hätte ahnen können, dass so ein Stellmacherkind, nur weil es so schön zur Harfe des Vaters sang, eines Tages bei einem Zufallsbesuch des Hainburger Chorregenten Franck so positiv auffiel, dass der Chorregent den Sechsjährigen zur weiteren Ausbildung nach Hainburg mitnahm. Auch dass der Sopran des hörbar begabten Kinds – mutmaßlich – etwa drei Jahre später dem Kapellmeister Reutter von der Kapelle des Wiener Stephansdoms ins Ohr drang und Haydn damit zum Wiener Sängerknaben wurde mit den bekannten Folgen: das alles geschah im diffusen Vorfeld der Musikbiografik.
Er lebte, so erzählte er als alter Mann seinen ersten beiden Biografen, in Zimmern, die „kaum den Regen abhielten“. Frierend oder schwitzend, winters wie sommers, las er nach dem stimmbruchbedingten Ausscheiden aus der Domkapelle als Gelegenheits- und Straßenmusiker abends nach der Arbeit bis in die Nacht Johann Joseph Fux‘ Gradus ad Parnassum und andere Standardwerke der Theorie; er schaffte sich Grundlagen. „Durch dieses elende Brod“, so der Rohrauer, „gehen viele Genie zu Grund, da ihnen die Zeit zum Studiren mangelt“. Haydn – ein bienenfleißiger Autodidakt.
Er war fünfundzwanzig, da gelangen ihm Durchbruch und Aufstieg: Musikdirektor beim Fürsten Morzin von 1757 bis 1761! Freie Kost und Logis, regelmäßiges Gehalt; er aß nicht am Gesindetisch, er speiste mit den „Offizialen“ – und er hatte ein kleines Orchester zur Verfügung, mit ihm konnte er alles zu Klang werden lassen, was ihm so tag- und nachtlang „durch die Birne rauschte“ (Eckhard Henscheid).
Noch idealer als Laboratorium und Prüfstand für die werdende Grammatik der instrumentalen Musiksprache zweier bürgerlicher Jahrhunderte erwiesen sich freilich nach Haydns Umzug 1761 die beiden panonischen Schlösser der ungarischen Fürsten Esterhazy – Eisenstadt bis 1778, Esterhaza bis 1790. Doppelt so viele Gulden wie bei Morzins, stolze 400 als Anfangsgehalt (sein letztes Gehalt in Pannonien betrug testamentarisch verfügte 1000 und vom Erben und Nachfolger um vierhundert auf 1400 ergänzte Gulden). Eine seit seinem Dienstantritt mit erweiterter Streichergruppe und chorischen Bläsern besetzte Kapelle – mit einem Fagott in der Bassgruppe, einer Bratsche in den Mittelstimmen, Flöten dazu. Er blieb in Eisenstadt und Esterhaza, nicht weit von seinem Heimatdorf, für vierzig schöpferische Jahre.
Nur zwölf seiner 104 Sinfonien sind außerhalb des Burgenlands entstanden; sie wurden für die Konzerte während der zwei, Anfang der 1790er Jahre nach London unternommenen Reisen komponiert. Mit ihnen war er europaweit endgültig berühmt. Aber um gerade mal diese zweimal sechs „Londoner Sinfonien“ wurde nach und nach – Ausnahme England – der aus nicht viel mehr als aus dem „Kaiserquartett“, der „Sinfonie mit dem Paukenschlag“ und der „Abschiedssinfonie“ sowie den beiden Oratorien bestehende Haydn-Kanon erweitert. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beschränkte sich das Abendland auf eine Art Schrumpfhaydn.
Zwar haben schon Dirigenten wie Antal Dorati oder Adam Fischer auf älteren, verdienstvollen Gesamtaufnahmen Licht in den bis dahin eher toten Haydn-Winkel geworfen. Aber über ein wissenschaftliches Interesse an bisher weitgehend nur Fachleuten Bekanntem hinaus sorgt Giovanni Antonini dafür, dass es, angefangen mit der 1. Sinfonie D-Dur Hob. I:1 (I:1) ein bis in die Herzkranzgefäße strömendes Wohlgefühl erzeugt, dem frühen und mittleren Haydn-Sinfonien zuzuhören.
Pierre Barbaud stellt für diesen ersten Abschnitt der panonischen Sinfonieproduktion, sie dauert bis ungefähr 1773, „eine dionysische Periode eines im Wesentlichen apollinischen Genies“ fest. Womit er auf die auf Erschaffung und Erfüllung strenger Kompositionsregeln gerichtete Arbeit Haydns an seinen Streichquartetten ab Opus 33 hinauswill: „In den Sinfonien dramatisiert Haydn seine Quartette“, er hebt den Widerspruch zwischen Kopf und – wie Mozart fachsimpelte – „Arsch“ der Musik auf.
Die Energie und Lebenskraft, die Antonini Haydn in diesem Sinn mitgibt, seine Vergrößerung aller Ausdrucksparameter, die hingehauchten Pianissimo-Passagen so gut wie die, den Lärm nicht scheuende Vehemenz des fortissimo, eine Schelmin, die sich dabei an die Ästhetik der Italowestern erinnert fühlt – ergibt am Ende einen, zu kleinen und großen Tutti-Explosionen neigenden, farbenfroh grell gespannten, eine Art bei Bedarf auch dämmrig nachdenklichen Espressivoismus.
Für einige Fachleute verstößt Antonini mit so etwas gegen alles, was sie der klassischen Musik als „künstlerische Seriosität“ einbedingen und abverlangen. Für andere, wie den Autor dieser Zeilen, erfüllt der Mailänder mit seinem Haydn einfach den Wunsch nach einer, den Wirkungen der Popmusik vergleichbaren Erfüllung auch musiksinnlichster Momente geistigen Spaßes.
Und spaßeshalber bekommt man dann noch mit, wie interessant das Gehörte im Hinblick auch auf die Möglichkeit ist, nachzuverfolgen, wie sich da, fast von Werk zu Werk, aus der eigenschöpferischen Verarbeitung ringsum einwirkender Einflüsse die haydnsche Form der Sinfonie entwickelt; in ihr dieser spezifische, für die meisten Dirigenten so schwer zu treffende Haydn-Ton.
Antonini trifft ihn blind, er scheint ihn im Blut zu haben, so impulsgeladen musiziert er bereits den Beginn der dreisätzigen Sinfonie I:1 am Beginn der 104 Sinfonien. Es ist – etwa 20 Jahre, bevor Mozart in Italien die dortige Sinfonie vor Ort erkundete – Haydns besondere Kunst, mit dem damals in Europa hegemonialen Einfluss italienischer Musik umzugehen. Die Eleganz Italiens verwandelt sich in Haydns der Welt zugewandtem und weltgewandtem, von pannonischer Kraft durchströmtem Geist in ein im Vergleich zwar vielleicht nicht ganz so italienisch leichtfüßiges, so, wie es Antonini musiziert aber pointiert dynamisches Voranstürmen eines aufgeklärten Optimismus im protorevolutionären Europa.
Ein wenig langweilig wird es selten, vielleicht in Sätzen wie dem eröffnenden Adagio von I:5. Ihm liegt das Formgerüst der Kirchensonate zugrunde, Haydn lässt es unangetastet. Es macht gleichwohl Freude nachzuverfolgen, wie Haydn schon zu Beginn seiner Erkundung sinfonischer Möglichkeiten die Wirkung der Instrumente nach und nach im Orchestersatz ausprobiert. Sie kommen konzertierend alle dran, von der Flöte bis zum Kontrabass. Zunächst die seit Barockzeiten in den Orchestern vorhandenen Hörner und Oboen/Englisch Hörner. Dann die Geigen, in Gestalt des großartigen Konzertmeisters Luigi Tomasini, dessen Doppelgriffe solo das Adagio von I:6 eröffnen. Überall durch die sehr frühen Sinfonien spukt so die in der Musikgeschichte bald auslaufende Sinfonia Concertante.
Am Beginn von I:6, die Sinfonie trägt den Beinamen „Le Matin“ (der Morgen), ist, nach einem ausinstrumentierten Crescendo mannheimer Art, eine Miniversion des großen C-Dur Anbruchs „Und es ward Licht“ aus der „Schöpfung“ zu hören. In den Menuetten, sie werden später zur unangefochtenen Spezialität haydnscher Sinfonik, verbreiten sich, oft volkstümlich spärlich aber farbig instrumentiert, höfische Etikette in gepuderten Bewegungen mit tänzerischer Lust am Auf und Ab der Volksmelodien.
Zwischen den ersten Satz von I:26 und das folgende Adagio legt Antonini eine markant lange Pause ein. Das Werk ist mit „Lamentatione“ überschrieben, eine Klage. Aber das Allegro assai con spirito des Beginns verdankt sich zwar, wie der langsame zweite Satz, den Passionsmotiven einer Choralbearbeitung. Aber es klingt im Allegro weder klagend noch leidend, soviel „spirito“ legt Antonini hinein: es klingt nach Auflehnung gegen das Leiden. Selbst die durchgehend legato-traurige Choralmelodie des Adagio wird von beunruhigenden Triolenfiguren der Geigen hintergangen; da kommt jemand nicht zur Ruhe. Offenbar wehte der Zeitgeist, den man heute verkürzend „Sturm und Drang“ nennt, auch durch die Köpfe Panoniens. Beim Eisenstädter Haydn – von Antonini mit, sich der Gefahr von Manieriertheit aussetzendem Nachdruck betont – bricht er impulsgeladen, voller Spannungen und kompakt dynamischer Aufladungen in den Moll-Sinfonien durch. In der Literatur wird diese Periode Haydns seine „romantische Periode“ genannt. Falsch im Sinn von undialektisch wäre das nur, wollte man übersehen, dass die Romantik des „Sturm und Drang“ eine (vor)revolutionäre war, die Romantik E. T. A. Hoffmanns, Eichendorffs oder Schumanns eine postrevolutionäre bis erzkatholisch-reaktionäre.
Gleich die erste der g-Moll Sinfonien, I:39, hat es in sich. Kein Wunder, dass gerade dieses Werk, in dem seinerseits viel Carl Philipp Emanuel Bach steckt, besonders kenntlich in den wilden Synkopen von Mozarts „kleiner“ g-Moll Sinfonie KV 183 nachklingt. Antonini lässt gleich in I:39 aus Haydn, dem gemütlichen Biedermeier-Kretin des Bildungsbürgertums, den Citoyen Haydn werden, der im Saft seiner Dreißiger eine – Beethoven dynamisch vorwegnehmende, nur eben pannonisch charmantere – jakobinische Variante der Aufklärung musikalisiert. Antoninis Streichertutti wird hier endgültig zum Schlagwerk der Saiten. Der massive Streichereinsatz in dieser Sinfonie wird von vier Hörnern hinterfüttert, es ist eine wahre Orchesterklangwucht – geöstreichert: a echte Hetz, a Mordsgaudi!
Ein weiteres, ausgefallenes Beispiel aus Haydns, von Giovanni Antonini so lebhaft beleuchteten totem Winkel wäre I:60. Sechs Sinfoniesätze. Als wär’s eine barocke Orchestersuite. Damit hat sie aber gar nichts mehr im Sinn. Denn sie ist aus der Theatermusik zu Jean Francois Regnards Komödie „Der Zerstreute“, Il Distratto, entstanden. Theaterhaft abwechslungsreich, voller Kontraste und Stilbrüche. Man kann gut darauf verzichten, diese Musik programmmusikalisch auf den Verlauf der Komödie herunterzubrechen. Immerhin, die unerwarteten Wendungen der Handlung, die komische Zerstreutheit Leandres, der männlichen Hauptfigur, inspirierten Haydn offensichtlich zu vielen Ausflügen in sein Vergnügen an musikalischer Überraschung: Nach dem ouvertürenhaft serianahen Portal einer vielleicht karikierend-pompös kurzen Adagio-Einleitung eine wunderbar sangliche Partie der Geigen, begleitet von zwischen Tonika und Dominante hin und her schaukelnden Sechzehnteln der tiefen Streicher. Im anschließenden Allegro di molto ein geradezu aktivistisch aufmunterndes, signalhaftes erstes Thema aus drei Staccato-Achteln und einem kurzen Viertel, motivischer Kern und Keimzelle des Satzes. Am Themenende reduziert Haydn den Fluss, die Musik kommt pianisissimo in einer Generalpause zum Erliegen. Sekundenlang atemberaubende Stille, Spannung – und Tuttischlag! Es geht fullspeed weiter. Haydn langt ins Komische, er spielt mit den Erwartungen. Der bald sprichwörtliche „haydnsche Witz“ kommt zu sich.
Das den Satz durchziehende Motiv der drei kurzen und der einen längeren Note markiert eine weitere der haydnschen Neuerungen: der Rhythmus kann zum Thema werden. Beethoven hat das im ersten Satz seiner 7. Sinfonie und geradezu ikonophonisch mit dem Anfang der 5. Sinfonie fortgesponnen. Auch deren Anfangsmotiv besteht bekanntlich aus drei kurzen und einer weiteren Note, die Beethoven allerdings durch verlängernde Betonung zum Schwerpunkt macht; die drei kurzen Noten werden zu einer Art Auftakt ihrer selbst.
Anders als später sein widerspenstiger Schüler Beethoven, spricht Haydn nicht bewusst in eine Öffentlichkeit – er reißt auf persönlicheren Wegen das Auditorium im Allegro von I:60 in die gleiche Richtung hin, in die auch Beethoven streben wird, ins dramatisch ereignishaft Offene. Das Adagio ein Idyll unisono-bukolischen Friedens. Legato, das war in der dogmatisch mageren Anfangsphase historischen Musizierens nahe am No go, es wurde misstrauisch beäugt. Inzwischen spielen die Streicher von Il Giardino Armonico oder die von Antoninis zweiter Haydn-Kapelle, dem Basler Kammerorchester, das naturhaft unwiderlegliche Legato-Idyll wunderweich und atmend aus; die dazwischenfunkenden Hornsignale bekräftigen närrisch kontrastierend nur die Unbeirrbarkeit des auf den sich zuweilen imitatorisch brechenden Wellen eines stampfend-beschwingten Volksphilosophentanzes dahinfließenden Friedens. Im Menuett von I:60 taucht sogar kurz eine fugierte Passage auf; im abschließenden Presto fällt den Violinen, kaum dass sie das erste Thema vorgestellt haben auf, dass ihre Instrumente verstimmt sind. Sie halten an und stimmen ihre auf F abgesunkenen G-Saiten nach, dann geht’s weiter.
Es spielt im Grunde keine Rolle, ob Haydn sich komponierend an den Motiven der Theaterdichtung Jean Francois Regnards orientierte oder sich von ihr nur hat anregen lassen. Haydns Musik spricht ihre eigene Sprache und erzählt allen die Geschichte, die in jeder und jedem in dem Moment gerade entstehen will. Eine Geschichte vielleicht darüber, dass Idyllen einen gegen Banalitäten allergischen Menschen des dritten Jahrtausends als solche erst interessieren, wenn in ihnen angelegte Brüche bemerkbar werden. Ohne Brüche ist die real existierende Idylle zurzeit längst unglaubwürdig.
Der harmonische Reichtum im Orchestersatz Haydns wächst gegen Ende seiner panonischen Lebenszeit, er wird motivisch-thematisch verwickelter. Seine Vorliebe für komische Diskontinuitäten aber, für die originelle Verletzung der Konvention, sie bleibt. So steckt, kurz vor Beginn seiner Arbeit an den für die Konzerte in der französischen Hauptstadt Ende der 1780er Jahre vorgesehenen „Pariser Sinfonien“, noch die 1784 entstandene I:80 voller feiner Ordnungswidrigkeiten. Abermals ganz gegen die Erwartung, die ihr Beinamen „La Passione“ weckt, stürmt und drängt sie, zumindest in den Ecksätzen, leidensfrei voran.
Da stampfen – es „fehlt“ die langsame Einleitung am Beginn des Allegro spirituoso –, begleitet von dramatischem Streicher-Tremolo, gewaltige Tuttischläge im Bass die erste Zählzeit eines Dreivierteltakts ins Ohr. Nach 20 Takten wird die Betonung der ersten Note von Synkopen irritiert. Wieder Tremolo und Aufregung. Am Ende der Exposition aber geht das dramatische Geschehen, man weiß nicht wie, in einen beschwingten Ländler simpelster Art über. Ihm fehlt allerdings gezielt der letzte Takt der üblichen achttaktigen Periode. Nach der Wiederholung wird nach einer zwei Takte langen, wie ein unvorhergesehenes Ende der Musik wirkenden Generalpause die Durchführung zur Bühne des banalen Ländlers, in der Luft ein Vorausahnen der Vorliebe Gustav Mahlers fürs Abgestandene. Mit dem Ländler klingt der Satz aus.
Das Presto am Sinfonieschluss spielt schon in der dreifachen Viertelnote des Beginns mit der Synkope, denn sie ist beim ersten und dritten Erklingen als doppeltes, über den Taktstrich hinweg verbundenes Achtel notiert, man kann die Synkope als quasi ihren eigenen Auftakt nur hören, wenn man sie vorher gelesen hat. Viel mehr an Thematik als diese drei Noten ist kaum zu erkennen. Der unglaublich ausführlichen Verarbeitung dieses Themenminimums schon in der Fortspinnung seiner drei Bestandteile, erst recht aber in der Durchführung, entspricht ein Maximum an vielfach variiertem Einsatz synkopischen Vorwärtsdrangs.
Haydn wird vor allem für die gedankliche, konzeptionelle Ausfüllung des schon lange vor ihm in der Musik vorhandenen Sonatensatzes gepriesen. Aber die Durchsetzung des ihm zurecht zugeschriebenen Sonatenhauptsatz-Prinzips (der Inhalt wurde von ihm ausgearbeitet, der Begriff bildete sich erst nach seinem Tod) spielt in den hier besprochenen frühen und mittleren Sinfonien noch kaum eine Rolle. Es ist der Orchesterklang, der Einsatz seiner dynamischen und farbklanglichen Möglichkeiten, der in diesen Sinfonien auftrumpft. Es ist deren neue Art klangkörperlicher Präsenz und öffentlicher Wirksamkeit.
Es wird im Fall Haydns oft darüber geklagt, dass es für einen weiten Zeitraum seines Lebens nur wenige Dokumente und folglich wenig Wissen über sein Privatleben, sein Menschsein, gibt. Aber Musik – als tönende Form – ist nicht nur eine Delikatesse für den Intellekt. Schon einzelne ihrer Töne, allein oder miteinander, richten bis ins Dunkel unseres Unterbewusstseins rätselhafte Wirkungen an. Weil sie darüber hinaus offenbar auch noch in der Lage sind, zumindest das historisch und kunsthistorisch versorgte Bewusstsein zu Eulenflügen zu inspirieren etwa durch die untergegangene Welt des 18. Jahrhunderts – darum erfährt, wer Haydns pannonische Sinfonien hört, viel Persönliches und Atmosphärisches auch über diesen immer wieder neu zu Entdeckenden.
Was hat dieser Mann vom Dorf, ohne große Vorbildung, im Laufe seines Lebens nicht alles an Weltwissen in sich untergebracht, was hat er daraus werden lassen, für wen nicht alles? Allein zur weiteren Entdeckung all dessen hat Giovanni Antonini in der Tat einiges beigetragen. junge Welt, Januar 2023