Rauch über der Wiege

Ich gehöre einer Generation an, die in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 gezeugt wurde. In meinem Fall an einem sonnigen Nachmittag, den Wilden Kaiser im Blick, auf dem hölzernen Balkon eines Hauses im bayrischen Reit im Winkel. Das bedeutet, in den Mitgliedern meiner Familie berührte sich die jüngere Zeitgeschichte mit meinem Leben. Poetisch verkürzt: Über meine Wiege zog noch der kalte Rauch aus Richtung Auschwitz.

Wie viele Male dachte ich schon, ich hätte es hinter mir. Aber Texte, Filme, Radiosendungen, eine zufällige Bemerkung von irgend jemand hatten es immer wieder in Erinnerung gerufen und mich in unterschiedlicher Intensität immer wieder darauf gestoßen. Ich habe es zwar meist mehr oder minder bald hinter mir gelassen, wie etwas, das man, über Bord geworfen, noch eine Weile mit den Augen verfolgt, wie es in den Wellen zurückbleibt und irgendwann, weit weg, im Wasser versinkt. Aber es kam wieder.

Das lag natürlich daran, dass ich nicht allein auf der Welt bin. Ich erinnere besonders deutlich das erste Mal, ich war um die fünfzehn. Wir saßen wie jeden Abend in den Ferien bei den Großeltern in Bremen im dunklen Wohnzimmer. Der Fernseher die einzige Lichtquelle. Er stand irgendwie sehr weit oben, das Bild schwarzweiß. Es war der Film von Alain Resnais.  Nacht und Nebel. Ich kannte den Namen des französischen Regisseurs damals sowenig wie den des österreichischen Komponisten Hanns Eisler, von dem die Musik ist. Der Abend kommt mir nach sechzig Jahren vor, als wäre er gestern gewesen.

Es war das erste Mal, dass ich die Bilder sah. Den Haufen nackter lebloser Menschenleiber, die wie schlotternder Müll von einem Bulldozer in eine Grube geschoben wurden. Dazu anonyme Lebendskelette in zu großen gestreiften Lumpen, die fremd wie Wesen von einem anderen Stern in die Kamera blickten. Ich sah den elektrischen Stacheldraht. Die Baracken mit den dreistöckigen Bettgestellen, aus denen hohle Augen in viel zu großen Köpfen mit gestreiften Mützen heraussahen.

Vielleicht ist „verwundert“ das richtige Wort. Ich war ganz gewiss weder schockiert noch etwa empört. Ich war einfach verblüfft, ich wunderte mich, dass es so etwas gegeben hatte und dass es von dem Land, in dem ich geboren bin, ausgegangen war. Dass die Bilder mich fürs Leben erreicht haben, sagt mir der Umstand, dass ich, nach sechzig Jahren, mitten in der Nacht wach bin und daran denke. Jetzt schreibe ich darüber.

Ich habe viele Nächte und Tage an diesen Abend denken müssen. An ihm geschah etwas für mich Besonderes. Denn wie auf ein unhörbares Kommando erhoben sich mitten im Film in seltsamer Bestimmtheit die Großeltern plötzlich aus ihren Fernsehsesseln und verließen schweigend den Raum. Die zum Geschehen auf dem Bildschirm in extremem Kontrast stehende Helligkeit, die in diesem Moment durch die von ihnen geöffnete Tür aus dem Flur jäh ins Wohnzimmerdunkel brach, blendete mich und meinen Bruder fast schmerzhaft. Weg waren sie.

Am Morgen darauf am Frühstückstisch. Das Erstaunen der Großeltern kann nicht größer gewesen sein, als mein Erstaunen, ja fast mein Entsetzen darüber jetzt: Warum um alles in der Welt haben wir Kinder die Großeltern damals nicht unverzüglich gefragt, was sie zum Inhalt dieses Films zu sagen und ob sie nichts von alldem mitbekommen hätten?

Wir kamen nicht einmal auf den Gedanken, sie zu fragen. Denn in den fünfzehn Jahren, die an diesem Morgen seit der Befreiung vom Alptraum des deutschen Faschismus vergangen waren, wurde in der Bundesrepublik Deutschland über die durch Deutsche verübten Weltverbrechen eisern geschwiegen. Entgegen der international verbreiteten Ansicht, die Bundesdeutschen hätten ihre Geschichte mustergültig aufgearbeitet, hatten die Erwachsenen meiner Jugend, konfrontiert mit ihrer Geschichte, sich uns Kindern gegenüber in diesen fünfzehn Jahren wortlos davongeschlichen, die komplette Öffentlichkeit, in der wir aufwuchsen, verhielt sich so.

Wir gingen damals am Frühstückstisch problemlos zur Tagesordnung über, weil es den Propagandisten der postfaschistischen BRD in den bis dahin verstrichenen fünfzehn Jahren glänzend gelungen war, uns Nachgeborenen und der internationalen Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, Auschwitz wäre die Tat „der Nazis“ gewesen, eine seltsame Horde, die während der Weimarer Republik irgendwie über die armen Deutschen gekommen waren.

Es war töricht und zugleich folgerichtig und selbstverständlich, dass diese harmlosen Großeltern, mit denen wir fröhlich Mensch-Ärgere-Dich-nicht, Monopoly oder Skat spielten, Ostereier suchten und an Sylvester Karpfen aßen und Blei gossen, für uns nur Unbeteiligte sein konnten. Denn die Nazis, das waren ja gleichsam Außerirdische gewesen (wir dachten damals selbstredend: „gewesen“). Was konnten die Erwachsenen mit den Raub- und Mordzügen dieser kurzgescheitelten, gestiefelten, mit rotgegründeten Hakenkreuzen und schwarzsilbernen Totenköpfen bedeckten Monster zu tun gehabt haben? Nichts. Der Großvater hatte dem Land treu als Offizier der Reichwehr, später der Wehrmacht gedient, hatte dabei den rechten Arm „verloren“. Die Großmutter, eine Fabrikantentochter der sächsischen Seifensieder-Industrie aus dem späteren Karl-Marx-Stadt, sorgte fürs Gesellschaftliche, stellte das Essen auf den Tisch, kochte Kaffee, die Kekse daneben, sie hielt die Konversation am Laufen.

Der diskrete Charme der Bourgeoisie hatte für mich vertraute und geliebte Gesichter. Bunuels Filmtitel fühlte sich in den 1970er Jahren, als wir, zu neuen Ufern aufbrechend, den Film im Kino sahen, schon wie ein Rückblick an, ein erstes Resümee. Das war es also, wozu ein distanziertes Verhältnis zu bekommen wir im Begriff standen.

Der Charme hatte Gründe für seine Diskretion; nicht grundlos leugnet das Bürgertum bis heute hartnäckig jede Geschichtlichkeit menschlichen Wesens und Treibens. Ich erlebte diesen Charme und alles, was Bunuel mit ihm charmant umschrieb, als Teil und Betroffener der Wirklichkeit dieser Klasse. Wenn ich es recht erinnere, widmet sich Bunuel vornehmlich den seltsamen Konventionen des Bürgertums. Dinge wie Geld und Eigentum kommen nicht zentral vor. Dieser „Charme der Bourgeoisie“, den ich in den Nachkriegsjahren in Elternhaus, Schule und Öffentlichkeit erlebte, sorgte dann mit dialektischer List dafür, dass ich, als ich erstmals per Zufall las, dass „die Bourgeoisie dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“ habe, sofort anbiss. Ich wusste ja schon viel zu gut, was da gemeint war.

Die Großmutter und ich 1949

Im Großelternhaus ging es, zumindest äußerlich, gesittet und wohlhabend zu. Der Großvater verdiente gut, er arbeitete, so hieß es, in der Personalabteilung der Flugzeugwerke „Weserflug“ in Vegesack. Der Lebensstandard gehoben mittelständisch. Anders bei uns zu Haus. Mein Bruder und ich lebten, damals eine Seltenheit, beim von unserer Mutter getrennten Vater. Alles in beiden Familien, deren Teil ich war, hatte sich getrennt. An Weihnachten bestückten zu unserer größten Freude neben den Eltern vier Großelternteile den Gabentisch. Mein Vater war der Erstgeborene eines schlesischen Kalk-, Dolomit- und Marmorfabrikanten, der in erster Ehe mit der nachmaligen Bremer Großmutter verheiratet war. Unser Vater mit den zwei Söhnen lebte, ein Dreimännerhaus, in einer kleinen Zweieinhalb-Zimmerwohnung am Rand von Eimsbüttel. Unterer Mittelstand. Mein Vater fuhr mit seinem grauen kleinen VW als Großhandelsvertreter durch die Provinz. Es ging uns gut. Aber er hat den steilen Absturz vom Kronprinzen eines, sein schlesisches Dorf feudal ausbeutenden Fabrikherren zum gehobenen Klinkenputzer im Dienst eines schwedischen Büromaschinenkonzerns nie verwunden. Ein Feierabendalkoholiker. Das Liebenswerteste an ihm war, was ihm zugleich in seiner Klasse das Genick brach: Er war zu schwach für die Wölfe. Wir als seine Kinder waren den Schattenseiten seiner Schwäche ausgeliefert. Er war der Sohn der Bremer Großmutter, die mir aus ihrer Zeit als schlesische Fabrikantengattin vom spätfeudalen Treiben auf den Rittergütern der Umgebung erzählt hat, auf die übers Wochenende auch die Fabrikanten geladen waren. Sie ließ mich den Zwiespalt spüren, in dem sie lebte. Sie hatte, wie sie mir einmal erzählte, als Jugendliche abends heimlich unter der Bettdecke Fontanes „Effi Briest“ verschlungen. Die Momente ihrer Wahrheit, deren ich als ihr Lieblingsenkel in unvergesslich intimen Momenten teilhaftig wurde, standen in krassem Kontrast zu ihrem geradezu kadavergehorsamen Schulterschluss mit dem Großvater, als ich erste Zweifel an der gelebten großelterlichen Ethik anmeldete. Ich hätte gern gewusst, wie die Großmutter sich den Entdeckungen gegenüber verhalten hätte, die ich Jahrzehnte nach ihrem Tod gemacht habe.

Es begann damit, das mir irgendwann  klar wurde, der großväterliche Arbeitsplatz „Weserflug“ war damals der Ort, an dem die durch ihren Einkäufer Franz-Joseph Strauß berüchtigten US-amerikanischen „Starfighter“-Abfangjäger für die Bundeswehr „umgerüstet“ wurden, im Klartext: Sie wurden atomwaffenfähig gemacht und fielen, weil mithin viel zu ungelenk, in mörderischer Zahl vom Himmel. Hinter vorgehaltener Hand hatte man mir in der Familie bereits seine tatsächliche Funktion in der Personalabteilung des Flugzeugwerks zugetuschelt: Er prüfte die einlaufenden Personalakten neu zu Beschäftigender, hieß: Er hielt die Weserflug „kommunistenrein“. Für so etwas bundesweit zuständig war damals Reinhard Gehlen, eine der vielen braunen Eminenzen der Adenauerzeit. Als bester Freund des mächtigen CIA-Chefs Allan Dulles war dieser oberste Kommunisten-Jäger unter den Hitlergenerälen zum Schöpfer des Bundesnachrichtendienstes geworden. Der Dienst kümmerte sich offenbar nicht nur um die „demokratische“ Lupenreinheit „freiheitlicher“ Großbetriebe. Er sorgte zugleich wie aus einem Guss für die flächendeckende Existenzsicherung höherer Nazi-Offiziere. Mein Großvater – er arbeitete nur in den ausgesucht lukrativen Jobs zuverlässiger Agenten der alten Zeit in einer gefaket neuen – hatte nach 1945 komplett ausgesorgt.

Der Großvater

Der Kontakt zu ihm brach ab, nachdem meine Großmutter an Gallenkrebs gestorben war. Unsere Wege hatten sich ohnehin längst getrennt, denn zu diesem Zeitpunkt war ich, was dem immer noch bestens vernetzten Ex-Agenten sicher schon bekannt war, seit 1972 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei

Die Sache ging mir nicht aus dem Sinn. Im Internet fand ich in den 2000er Jahren in einer Kartei ehemaliger Wehrmachtsoffiziere den Namen des Großvaters und die Beschreibung seiner Laufbahn. Er hatte, nachdem ihm Mutter und Vater viel zu früh verstorben waren, eine neue „Familie“ gefunden, die Freikorps. Noch nicht zwanzig, zog er mit den weißen Marodeuren gegen die Revolution zu Felde und lernte, Arbeiteraufstände niederzuschlagen. In der Reichswehr war er schnell Hauptmann, in der Wehrmacht im Afrikafeldzug Major im Generalstab Erwin Rommels. Auf dem Rückzug aus Afrika wurde ihm 1942 in Tobruk der rechte Arm weggeschossen, er wurde ausgeflogen. Ausgeheilt rückte der Einarmige ins Heerespersonalamt ein, wo er laut Karteieintrag am 15. 10. 1944 Chef der Abteilung P7 wurde. In Jürgen Försters „Die Wehrmacht im NS-Staat“ stieß ich in einer Fußnote auf Genaueres. Dort fand sich die doch recht erstaunliche Tatsache, dass die „erste Sofortmaßnahme“ meines Großvaters als P7-Abteilungschef darin bestand, dem SS-Führer Heinrich Himmler einen „Personalsachbearbeiter als persönlichen Ordonnanzoffizier“ zuzuteilen. Mir stockte, selbst noch 2014, als ich diese Entdeckung machte, der Atem.

Dieser Mensch hatte sich uns gegenüber als stets zu Scherzen aufgelegter Biedermann aufgeführt. Was es mit der „Nationalzeitung“ auf sich hatte, deren Abonnent er war, wusste ich damals noch nicht. Auch die Familienreise ins niederländische Apeldoorn, zum Schloss des dort seine Exil-Millionen wegliternden letzten deutschen Kaisers, erschien mir unverdächtig.  Die Bundeswehr beförderte den Einarmigen – bei der Nazi-Wehrmacht war er als Oberstleutnant ausgeschieden – zum Oberst der Reserve. Für die jungen Leutnants der bei Bremen stationierten Panzertruppen, die sich bei uns die Klinke in die Hand gaben, war er Held, Ratgeber und Vorbild.

Eine launige Großvater-Erinnerung, die mir einfällt, betrifft eine seiner Redewendungen beim Skat: War sein Blatt so gut, dass er zum entsprechenden Zeitpunkt mit allen Karten obenauf, also aller Stiche sicher war und damit der Gewinner, legte er seine Karten auf den Tisch und sagte in trockenem Freikorps-Deutsch: „Die Gewehre aufs Rathaus!“ Wir haben ihn auch nie nach der Herkunft dieser Formulierung gefragt.

Was waren das für Menschen, unter denen ich aufwuchs? In der Rückschau: Gespenster. Denn sie führten ein Doppelleben. Auch vor sich selbst. Neben dem von Bunuel gestalteten diskreten Charme hat Hannah Arendt in der Beobachtung des Jerusalemer Eichmann-Prozesses ein weiteres Charakteristikum der Bourgeoisie ans Licht gebracht, das ich in meiner Familie life erlebte: die Banalität des Bösen.

Mein Großvater liebte Eisbein mit Erbsenpüree. Er machte jährlich die traditionellen Kohl- und Pinkelfahrten der Bremer mit; musikalisch etwas einseitig, sammelte er internationale Marschmusikschallpatten; die Kultur war für ihn eher Damensache. Und dann kam in den 1960er Jahren einmal eine Postkarte aus Südafrika. Auf den Erzfrachtern der Firma Krupp konnten Firmenangehörige – der Großvater arbeitete damals für Krupp – kostenlos in aller Welt herumschippern, den Großvater zog es ans Kap der guten Hoffnung. Auf diese Postkarte hatte der Großvater in seiner krakelig steilen Neulinkshänder-Schrift mit Kugelschreiber die Worte gesetzt: „Hier ist die Welt noch in Ordnung“. Wörtlich. Es hat sich mir, als ich lernte, wer Nelson Mandela war, eingebrannt. Konnte er davon ausgehen, dass wir nicht wussten, was in Südafrika zu der Zeit vorging? Er konnte. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ sagt Goya. Ich wuchs unter Ungeheuern auf, ich frühstückte und würfelte mit Monstern.

Wenn die 68er, zu denen ich mich freudig zähle, bis heute angefeindet und schlechtgeredet werden soweit sie nicht Außenminister geworden sind, dann im Kern dafür, dass sie den Schleier über den Menschheitsverbrechen des Hitlerfaschismus weggerissen und Frischluft hereingelassen haben in den erstickenden Mief der Bundesrepublik zur Zeit des Adenauerregimes. Zur „Toleranz und Offenheit“, mit der sich aggressivste Teile des bundesdeutschen Bürgertums noch heute vor der Welt schmücken, haben unter Polizeiknüppeln – für Benno Ohnesorg auch unter Polizeikugeln – mit unserem spontanen Überraschungsangriff aufs Schweigen wir 68er sie geradezu zwingen müssen. Dann erkannten sie, dass sich auch daran, wenn man es richtig einfädelte, gut verdienen ließ, die Jugendkultur entstand.

Der Großvater hatte, was mir erst später klar wurde, auch während meiner Bundeswehrzeit stets die Hand über mir. Als Soldat verhielt ich mich erstmals nicht wirklich familiengerecht. Ich war ein etwas schläfriger Wachsoldat, ich konnte den Mund nicht halten. Einmal fuhr ich sogar einen Kameraden, der es nicht mehr aushielt, eines so wolken- wie dienstfreien sonntags mit meinem DKW Junior nach Holland, von wo er nach Israel zu gehen gedachte. Beihilfe zur Fahnenflucht. Der MAD verhörte mich. Mit Sicherheit haben sie gewusst, wo ich war. Aber mir geschah nichts. Nur als wir nach drei Monaten von der Grund- zur Vollausbildung übergingen, kam ich zur Strafe für so viel Unbotmäßigkeit nicht in den für gymnasiale Zeitsoldaten obligatorischen Kompanie-Zug für die Reserveoffiziers-Anwärter (ich hatte mich familienwunschgemäß für zwei Jahre verpflichtet). Ich kam in einen der ausschließlich aus Wehrpflichtigen bestehenden drei „Kampfzüge“.

Da ich in der Bundeswehr bei den Pionieren war, geschah damit etwas für mein weiteres Leben sehr Wichtiges: ganz gegen die Absichten derer, die mich „zum Bund“ geschickt hatten, kam ich als Bürgersohn erstmals in meinem Leben auf diese Weise in engen Kontakt mit der Arbeiterklasse. Denn die Kampfzüge bestanden aus Handwerkern, Hafenarbeitern, Maschinenschlossern. Ihr Ethos, sie hätten das Wort nicht gekannt, faszinierte mich. Ich lernte von ihnen und sie – es bedeutete mir unendlich viel – mochten mich, sie nahmen mir den ewig schwatzenden Spinner, der ich war, nicht krumm. Auf diese Weise war ich noch nie gemocht worden. Ich lernte ein für mich neues Gemeinschaftsgefühl kennen, ich wurde Kompaniesprecher, schrieb für die Kameraden Dienstbeschwerden und trank mit ihnen Aquavit bis fast zum Dienstbeginn.

Am Ende der drei Monate Vollausbildung in der Kampfkompanie wurde ich zum Kompaniechef befohlen. Mit „hartem Hut“. Der Stahlhelm auf dem Kopf, wenn man zum Chef musste, bedeutete für uns damals die Alternative: Beförderung oder Knast. Aber es war etwas anderes. Wieder hatte mit Sicherheit mein Großvater die Hand im Spiel. Ich hätte die Flinte zu früh ins Korn geworfen, sagte der Kompaniechef. Ich wäre zwar undiszipliniert gewesen, aber auch einsatzfreudig und kurzum – ich solle meine Sachen packen und in den Block der Reserveoffiziersanwärter umziehen, am nächsten Tag ginge es ab nach München zum Fahnenjunker-Lehrgang, Schwamm drüber, wir sind ja gar nicht so. Er lächelte gnädig. Ich weiß bis heute nicht, woher ich die Veranlassung und die Sicherheit nahm, in diesem Moment genau zu wissen, was ich ihm antworten wollte. Dort, wo ich jetzt bin, sagte ich, gefällt es mir gut. Er wurde bleich. Es war mein erster Schritt vom Wege.

Das hätte der Großvater nicht gedacht! Er war machtlos. Ich hatte eine Weile die Gewohnheit, an passender Stelle zu verkünden, das sei das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe – meine Klasse zu verraten. Aber außer, dass das ein wenig dramatisch und pathetisch klingt, ist es vielleicht auch nicht ganz richtig. Ich habe meine Klasse nicht verraten. Ich habe im Bemühen, dabei zu helfen, die großen Ideen des Bürgertums endlich zu verwirklichen, nur die Reihen gewechselt. Ich schloss mich jenen an, die heute global und durchaus machtvoll und hochproduktiv für das eintreten, was die Bourgeoisie, als sie noch revolutionär war, Liberté, Ègalité, Fraternité nannte. Das ist es. Und was meinen Großvater angeht: Ihn ereilte die Höchststrafe. Sein Enkel ist seit 49 Jahren Kommunist – und Linkshänder seit Geburt. Junge Welt, Mai 2021

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