Klassik.Kinder

„Wie die Bildhauer und Maler, welche ihn darstellten, das Werk ihrer Vorgänger einer nach dem anderen idealisierten, bis der Komponist gleich einem homerischen Gotte vor uns stand, so hat sich in der Beethoven-Literatur ein ähnlicher Prozess vollzogen. Könnten die auf die Erde zurückkehren, welche ihn persönlich kannten, sie würden in diesen Bildnissen niemals die kurze muskulöse Figur und das pockennarbige Gesicht ihres alten Freundes wiedererkennen. Man unterdrückte das, was gewöhnlich und trivial erschien, bis man ihn zu einem Wesen gemacht hatte, welches erhaben und getrennt von den übrigen Menschenkindern in dem ihm eigentümlichen Reiche gigantischer Ideen lebte und in seiner Musik geheimnisvolle Enthüllungen über unaussprechliche Dinge machte“.

Übermenschlich, unbegreiflich, unberührbar. So stellt sich, von dem großen US-amerikanischen Beethoven-Biographen Alexander Wheelock Thayer bereits 1865 beschrieben, in vielen Belangen noch heute eine „Klassik“ dar, deren Akteuren so langsam dämmert, dass sie die meisten Menschen eher befremdet oder gleich ganz kalt lässt. Das gilt für Kinder ganz besonders. Denn unverbildet und wach wie sie von Natur aus sind, reagieren sie, wenn man ihnen falsch oder gar verlogen kommt, offen gelangweilt und bringen das auch wunderbar brutal zum Ausdruck.

Kinder verlangen spontan und radikal, was viele Erwachsene seltsamerweise im Zusammenhang mit klassischer Musik als unseriös empfinden: Sie wollen unterhalten sein. Ihr Unterhaltungsbegriff ist allerdings noch unverschleimt von der platten Zuckrigkeit und Nichtigkeit all dessen, was die Märkte so täglich an „Unterhaltung“ in die Welt spülen. Kinder wollen lachen und weinen; der Kopf soll springen vor Sinn und Unsinn, Quatsch und Wahrheit. Derb soll es sein und ganz leicht kitzeln. Nur nicht ablenken von allem, was wichtig ist. Bauch und Herz sind wichtig, die sollen weich werden, das tut gut. Für Kinder, sagt Gorki, muss man arbeiten wie für Erwachsene, nur besser.

Was haben sie uns in meiner Jugend nicht angeödet mit ihren priesterlichen Schulaufführungen. Man konnte vor lauter Weihrauch und Wichtigtuerei kaum atmen. Die feist in Samt und Seide eingeschnürten Arme und Hälse dicker Sängerinnen schwabbelten bei jedem Ton. Es war zum Piepen. Aber gerade das war verboten. Die Albernheiten mit denen man bis zuletzt auch bei jeder Echo Klassik-Gala meinte, Kunst ans Volk bringen zu müssen, waren kaum weniger peinlich, künstlich und überflüssig.

Auftritt bei den Bachtagen in Thun, August 2015

„Ergebenster Diener, mein Arsch ist kein Wiener“ meinte Mozart am Ende eines seiner Briefe. Er liebte es, die von ihm geschätzten Weine – im zweiten Finale des „Don Giovanni“ ist es der noch heute gut zu trinkende Marzemino aus dem Trentino – in seinen Opern anzupreisen. Sein Diener Leporello zittert derweil unterm Tisch dem tragischen Ende seines Herrn entgegen. Was ihn aber nicht hindert, schnell noch ein Hühnerbein vom Tisch zu klauen. Warum soll das Kinder nicht amüsieren, wenn man es ihnen auf eine Weise erzählt, die ihren Bedürfnissen entgegenkommt? Auch das wenig später zu erlebende Ende des Wüstlings – ein Wort, das Kinder lieben! – ist in seiner Drastik und höllenschreienden Dramatik wie für Kinder gemacht. Leporello unterm Tisch sorgt mit seinen komisch knieweichen Kommentaren dafür, dass niemand sich ängstigt.

Was noch alles dazugehört, dass Kinder sich an klassischer Musik freuen? Zuerst natürlich ein Bildungswesen und eine Gesellschaft, die von ihrem Selbstverständnis her atmosphärisch und ökonomisch bereit und in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass nicht nur die Paar Kinder der Oberschicht eventuell ein bisschen Spaß an Musik haben. Die Instrumente der in einem bewundernswerten Klassikorchester-System musizierenden Kinder aus den sich der Marktwirtschaft verdankenden Slums Venezuelas sind von einem Staat bezahlt, dem nicht in erster Linie volle Supermarktregale für zahlungsfähige Luxuskonsumenten wichtig sind. Die aus dem Prekariat kommenden venezolanischen Nachwuchsmusiker spielen außerhalb der Konzertsäle mit Sicherheit nicht nur Mozart und Mahler. Wenn es am Ende keine Rolle mehr spielt, ob es sich bei der Freude an Musik um Rap oder Jazz, Tango oder Rock’n Roll handelt, um Salsa, Hip Hop oder Schubert / Cage / Lachenmann, wäre am Ende auch für die klassische Musik alles geleistet. Denn zu deren Abkapselung durch einen unseligen Seriositätsbegriff kommt ein fragwürdiges Reinheitsgebot und ein Naserümpfen anderen Musikgattungen gegenüber. Kindern wird so etwas anerzogen in einem Gesellschaftssystem, das auf Segregation in allen Bereichen angewiesen zu sein scheint. Kinder, wenn man es ihnen nicht abgewöhnt, sind  neugierig, offen und begeisterungsfähig für alle Arten und Zeitalter von Musik.

Die Volksrepublik Chinje a, um endlich positiv zu werden, reagierte nach dem großen Bankenkrach 2008 als einziges Land mit einem staatlichen Investitionsprogramm in gigantischen Dimensionen. Darüber freuten sich, wie mir je ein Mitarbeiter erzählte, auch ein großer Musikverlag und eine Konzertflügel-Fabrik in Hamburg. Denn von der dreistelligen Milliardensumme, um die es im fernen Osten ging, profitierten auch die in wachsender Zahl in der Volksrepublik vorhandenen Konservatorien und Musikhochschulen. Sie orderten Noten und Klaviere in Stückzahlen, von denen man nicht nur in Hamburg träumt. Für die chinesischen Kinder, sollte man meinen, ist in Zukunft nicht nur musikalisch eher besser als schlechter gesorgt.      Junge Welt, Mai 2018

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