Liszt.Orchestermusik.Lauschangriff 4 / 05 (FREITAG)

In dieser Kolumne war schon die Rede davon: Es macht Sinn und Spaß, sich das Verstehen klassischer Musik durch den Vergleich mit anderen Kunstgattungen zu erleichtern. Eine Annäherung etwa an die Musik Arnold Schönbergs mag durch einen Blick auf die ersten abbildfreien Arbeiten Wassilij Kandinskys inspiriert werden. Und die Bilder Picassos werden, analog bis in die verschiedenen “Perioden” beider Künstler und ohne dass sich beider Weltanschauung damit auch nur entfernt ähnlich wären, vielleicht plausibler beim Hören der Musik Strawinskys.

Ausgesprochen angenehm und zugleich erhellend für ein plastisch plausibles Verständnis von Musik ist auch das Assoziationsfeld Kochen und Essgenuss. Der alte Franz Liszt, ein Freund und Kenner guten Lebens, hielt sich diesbezüglich auch in der Musik ans Gesunde. Bei Gelegenheit eines Alterswerks, seiner letzten sinfonischen Dichtung Von der Wiege bis zur Bahre, gefiel es ihm, von seiner “wachsenden Apathie gegen polyphone Fettsucht” zu sprechen. Die Ecksätze des Stücks sind mit Geigen, Bratschen, Flöten und “Harfe ad libitum” entsprechend fettarm besetzt; Liszts unkonventionell in die Moderne vorstoßende Harmonik und seine Melodische Konzentration entfalten stärkste Wirkungen.

Franz Liszt war zu Lebzeiten berühmt vor allem als Komponist und Interpret weithin überhitzter Musik fürs Soloklavier. Erst durch den Klangkörper, den er als Weimarer Hofkapellmeister ab 1848 für zwölf Jahre zur Verfügung hatte, beschäftigte er sich mit Orchestermusik. Allerdings, so wie seine Klavierkompositionen für Ohren des dritten Jahrtausends immer unter einer gewissen klanglichen Überladenheit leiden, sie waren nicht zuletzt Surplus von spieltechnisch Atem beraubenden Ungeheuerlichkeiten, erschien einer mehr fürs Sachlich-Klare begeisterten Moderne auch Liszts Sinfonik orchestral übergewichtig bis adipos, sie war überfrachtet mit Pathos und einer im 20. Jahrhundert bereits altmodischen Literarisierung und Bebilderung von Musik.

Dass dies freilich nur zum Teil an Liszt liegt und schon garnicht am seine Mittel immer sparsamer einsetzenden alternden und alten Liszt, zeigt sich jetzt anlässlich einer neuen CD des belgischen Dirigenten und Pianisten Jos van Immerseel .

Dessen Anima Eterna Orchester musiziert Stücke wie Liszts Totentanz, eine Art sinfonischer Folge von Klaviervariationen über das Dies irae der katholischen Totenmesse auf einem Èrard-Hammerflügel der Lisztzeit, auf mit Darm bespannten Geigen, begleitet von historisch mensurierten Holz- und Blechblasinstrumenten. Das somit entstehende, ungewohnt durchsichtige Klangbild bringt die Hörenden auf den Gedanken, es könnte wohl nicht allein die Satztechnik Liszts gewesen sein, welche diese Musik für zeigenössische Ohren so schwer verdaulich macht. Dafür verantwortlich eher das im Großteil des 20. Jahrhunderts dominierende, kompakt streicherdominierte Klangdesign des bürgerlichen Sinfonieorchesters, ein groß dimensionierter Einheitsbrei, vergleichbar der Küche jener Zeiten, die es liebte, den, wenn in seinen Einzelteilen wahrnehmbar, köstlichen Zusammenklang der Gewürze und Zutaten eines Gerichts in dicken, brachial pikanten Sahnesaucen zu ersäufen.

So hört man bei Immerseel noch in abgenudelten Wunschkonzertnummern wie den Ungarischen Rhapsodien nie geahnte Details; der vitale Volkston dieser Klavierkompositionen bleibt auch im fürs große Orchester gesetzten Großauftritt bildmächtig, glaubhaft und griffig. Beim Hören von Immerseels Lesart der Sinfonischen Dichtungen drängt sich der Umstand geradezu auf, dass Liszt befreundet war mit Größen wie Hector Berlioz, vertraut mit seiner Art zu komponieren; Berlioz dirigierte oft und umjubelt in Weimar. Wer bei Liszt auch an die Musik Richard Wagners denkt, des anderthalb Jahre jüngeren Schwiegersohns Liszts, sollte indes eher davon ausgehen, dass der Schwiegersohn sich offensichtlich mehr beim Schwiegervater bediente als umgekehrt.

Selbst durch als Soundtrack hitlerfaschistischer Siegesmeldungen im zweiten Weltkrieg misshandelte Werke wie Les Préludeserwachen mit der spröden Farbkraft und Plastizität der alten Instrumente zu einem neuen und wohlverdienten zweiten Leben.

Liszt war noch nicht tot, da hatte man ihn vergessen. Meister wie Busoni oder Bartok betonten seine von Wagner zu Unrecht hegemonial usurpierte Bedeutung für die Entwicklung der Moderne vorerst umsonst. Immerseels CD ist ein weiterer Beitrag zur allfälligen Korrektur der Musikgeschichte an diesem Punkt. Der Freitag, Juni 2005

Liszt: Totentanz, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, Les Préludes, Ungarische Rhapsodie Nr. 3, Von der Wiege bis zur Bahre, Mazeppa – Rian de Waal, Anima Eterna Orchestra, Jos van Immerseel (Zig-Zag-Territoires / Note 1)

Ein weiterer Text aus meiner Lauschangriff-Kolumne in der von Günther Gauß herausgegebenen Wochenzeitung Freitag (das Blatt wurde 2008 verkauft).

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