Gerhard Richter. Panorama (2023)

Formen der Hoffnung (Überschrift und Zwischentitel Redaktion)

Gerhard Richter: Sturm

Wir besuchten Freunde im Herbst 2012 in London, und es traf sich, dass wir irgendwann vorm braunen Betonkasten der Tate Modern am windigen Themseufer standen. Ein weißes Riesentransparent flatterte an der Front: „Gerhard Richter – Panorama“. Die Leute strömten hinein.

Bild aus dem den Gefangenen aus der RAF gewidmeten Zyklus (s.a. Jaques-Louis Davids Bildnis des Marat)

Ich hatte im Lauf der Jahre immer mal wieder Bilder von diesem Maler gesehen. Ich erinnerte mich an das wie staubige Schwarzweißbild einer alten Schreibmaschine in den 1960er Jahren, sichtlich abgewonnen dem sachlichen Blick einer Kamera, es wirkte freudlos. Später, erneut per Foto, war es das farbige, extrem brillant und sauber erscheinende Bild zweier brennender Kerzen. Dann, noch Ende der 1980er Jahre unvermeidlich im Gedächtnis, die den Gefangenen aus der RAF gewidmete, wieder in verwischtem Schwarzweiß und Grau gehaltene Serie über ein Thema, dass mich hingucken ließ und das mich in diesen Bildern Richters seltsam berührte.

Soweit die Schlaglichter. Jetzt hing und stand in London fast alles vor uns, was Richter in sechzig Jahren Lebensarbeit geschaffen hatte. (Richters informative Homepage https://gerhard-richter.com/de gibt umfangreich Auskunft). „Lebenswerk“ wäre sachlich korrekt, Richter war damals gerade achtzig geworden. Als er ein Jahr vorm Bau der Mauer die DDR verließ – er ist in Dresden-Neustadt geboren und an der Dresdner Akademie gründlich zum Künstlersein ausgebildet worden – ging in Westdeutschland gerade eine auf den Nazikitsch reagierende Nachkriegsdiktatur des Abstraktionismus zu Ende. Die klapprig-graue Schreibmaschine, erfuhr man in London, war Frucht von Richters Auseinandersetzung mit Marcel Duchamps, eine dito triste Klopapierrolle im grauen Halter aus demselben Zusammenhang deutet auf Gerhard Richters mitunter, auch was die Gegenständlichkeit angeht, recht grimmigen Humor.

Kapitalistischer Realismus

Duchamps abgehakt, kam die Pop Art dran. Ledig aller tiefgründigen, auf uns damals „autoritär“ wirkenden Ismen, triumphierte in ihr erneut der Gegenstand, nunmehr in der fröhlichen Banalität von Warhols Tomatendosen, seinen Porträts der zu Pop-Ikonen mutierten Stars der Weltgeschichte, nicht zu vergessen auch in Claes Oldenburgs vielmetergroß sackartig von der Decke hängenden, aus gefülltem Grobleinen genähten Telefonen. Richter hatte an der Düsseldorfer Akademie den Mitschüler Siegmar Polke kennengelernt, eine Freundschaft fürs Leben. Die beiden erkannten bald, dass der auf die Kunst übertragene Zweckoptimismus der Warenwelt für die Wirklichkeit der Bundesrepublik nur von Ferne wirksam war. Richters Foto-Bild mit den ihre Todeslast über die Welt streuenden US-Bombern aus den 1960er Jahren ist zwar pop-artig plakativ, aber ihm geht die Buntheit, geht der knallige Werbeaplomb von Roy Lichtensteins Comic-Düsenjägern ab. Richter kümmert sich, auch in den Bildern einiger Verwandter, schwarzweiß um düsterere Aspekte des Weltgeschehens. Polke und er nannten, sich ironisch von der Pop Art abgrenzend, ihre Art Gegenständlichkeit, „kapitalistischer Realismus“.

In London bekam man 2012 einen Eindruck von der Unermüdlichkeit, mit der Künstler wie Richter und Polke in ihrer Düsseldorfer Zeit, in den 1960er Jahren, in alle Richtungen suchten und ausprobierten. Richter begann – er wollte nicht länger als „der mit den nachgemalten Familienbildern“ abgestempelt werden – Landschaften und Stadtschaften zu malen (im Katalog „Townscapes“). Er malt in diesen Jahren die Großstadt in opak stilisierten Licht- und Schattenflächen als belebte Anhäufung von Quadern verschiedener Größe und Form, er malt die Landschaft der Stadt irgendwann auch von Fotos in verschiedenem Licht; er malt grüne, eigenartig schöne Landschaften, Meer- und Wolkenbilder, rätselhaft unscheinbare Ecken des Landes außerhalb der Städte. Mehr zufällig enstand das erste abstrakte Bild: „Es gab an der Akademie ein Seminar zum Drucktechniken-Lernen“, erinnert er sich ans Jahr 1957 in Dresden. „Und da lag plötzlich ein wunderbarer Tintenroller und Tinte dazu und ich fing an, mit dem Roller Sachen auszuprobieren, sie sahen alle gut aus. Dann dachte ich irgendwann: nein, das ganze kann einfach nicht derart simpel sein, es hat nichts mit Kunst zu tun, es ist pure Spielerei“. Ein Freund nahm damals  die Mappe mit ihren 20 Blättern zu sich nachhause und verwahrte sie fünfzig Jahre lang. Jetzt ist sie der frühe „Elbe“-Zyklus.

Anno 1966 entsteht, erstmals nicht nach einem vorgefundenen, sondern nach einem eigens von ihm angefertigten Farbfoto seiner ersten Frau ein Hochformat, das in der musealen Fülle an Menschen und Bildern in London ob seiner Eigentümlichkeit ein Blickfang war: eine zentral in einem, schlichter kaum denkbaren, Bildaufbau eine Treppe herunterkommende nackte Frau mit kurzen Haaren. Keine Blondine, die allen gefällt, wie ihre von Botticelli in großer Klarheit gemalte berühmte Schwester Venus. „Ema“ ist ein diesiger Engel von dieser Welt. Sie erscheint uns nicht götterdurchwehten Goldhaars in heller Mittelmeerluft stehend in einer Muschel. „Ema“ kommt eine lapidare Treppe herunter. Sie ist nicht halb überwölbt von dunkel im Gegenlicht gefiedertem, den engelschönen Leib der blonden Florentinerin streichelndem Blattwerk. „Ema“ steigt, durch Verwischungen und andere Unschärfen, vor allem durch ein Sfumato, um das die Maler des Cinquecento Richter beneidet hätten, herab in eine atmosphärisch aufgeladene Alltäglichkeit, die ihresgleichen in deutschen Treppenhäusern nicht lange suchen muss. Seichtes Grau überall, in der Luft durchsichtige Gelbtöne. Sfumatogelenkt findet der Blick ins diffus blonde Schamgewusel. Die völlig unsensationell dampfende Fleischfarbe „Emas“ erweckt nicht bei allen Begehren. Es ist wie im Leben: viele fühlen sich organisch beschwingt beim Anblick von „Emas“ Erotik der Selbstverständlichkeit. Aber vielen anderen sagt dieser Typ Frau vielleicht nicht viel.

Modelle der Wirklichkeit

Gerhard Richter als Kleinkind auf dem Schoß seiner der Nazi-Euthanasie zum Opfer gefallenen Tante Marianne.

„Diese Dresdner Zeit hat mich in einem allgemeinen Sinn doch sehr grundsätzlich geprägt“, sagt der alte Richter. „Wenn ich ein Foto abmale, kann ich die ganzen Kriterien der Vorbilder vergessen und sozusagen gegen meinen Willen malen. Das empfand ich als Bereicherung“.  Er sieht den mittelbaren Ausgangspunkt einer bereits fotografisch codierten, durch die Linse einer Optik scheinbar „objektivierten“ Abbildung gleichauf mit der unmittelbaren, der Jahrtausende alten Methode über Hand und Kopf an die Vorstellung dessen zu kommen, was man sieht. Der ästhetische Aufwand, den Richter treibt, um den Ausgangsfotos die oft intensiv ausstrahlende Aura eines guten Gemäldes zu geben, wäre den uralten Prozeduren gleichzusetzen, die fürs Entstehen eines traditionellen Ölgemäldes erforderlich waren und sind.

In London zu sehen waren im chronologischen Wechsel: nach Fotos gemalte Bilder, abstrakte Bilder, Richters Spiele mit Glasscheiben und Spiegeln, wenige Skulpturen, die wissenschaftliche, den Computer vorwegnehmende Auseinandersetzung mit der Farbe (ursprünglich die kritische Replik auf den Neo-Konstruktivismus eines Josef Albers, viel später die Grundlage für Richters, die Möglichkeiten der Malerei zauberisch transzendierende Kirchenfenster). In faszinierenden abstrakten Bleistiftzeichnungen ist Richters spielerisch-intuitiv entdeckungsfreudiges Ringen mit dem Zufall unmittelbar nachzuverfolgen. Das alles gehört für Richter zu dem, was er unter „Malerei“ versteht.

Gerhard Richter: Fenster im Kölner Dom

Im Geiste Mondrians, Duchamps, Max Ernsts, John Cages ist Richter der große Ausprobierer zeitgenössischer Malerei. Ein dialektischer Scherz, dass er – in einer Kunstwelt, in der sich alles in Richtung Bewegtbilder, Installation, Spielerei, Digitalisierung transformiert – erklärtermaßen im unbeweglichen, malerisch vielseitig ausgestalteten Tafelbild und in seinen auf Papier realisierten Bleistiftzeichnungen verharrt. Allein darin führt sich die Ansicht ad absurdum, Richter jage in seiner Vielseitigkeit dem Imperativ der Moden eines unersättlichen Kunstmarkts nach (in dem Attribut, er sei der „teuerste“ Maler der Gegenwart, schwingt die populäre Bewunderung für große Geldmengen mit, aber auch ein gewisser Neid). „Ich komme aus einer anderen Tradition“, sagt Richter. „Ich kann nichts anderes; und ich bin immer noch sehr sicher, dass die Malerei, ähnlich wie das Singen oder das Tanzen, zu den auf sehr grundsätzliche Weise humanen Fähigkeiten gehört, die einen Sinn machen.“

Will man der Vorgehensweise Richters in der Werkgruppe „Foto-Bilder“ näherkommen, sollte man mindestens größere Reproduktionen vor sich haben. Kleine Zeitungs- oder Online-Abbildungen sind in dem, was man erkennt, mit den Ausgangsfotos so gut wie identisch, sie sind reizlos; es bleibt unsichtbar, was Richter mit und aus den Fotos gemacht hat. Das Arbeiten in Linien ist traditionell der erste Schritt in der ästhetisch-sinnlichen Aneignung von Wirklichkeit. Die zeichnende Hand, wenn mimetisch unterwegs, verwandelt den mehrdimensionalen Gegenstand in die zweidimensionale Form eines Zusammenhangs vieler Linien: aus Anschauung wird Vorstellung. In diesem Prozess taucht unvermeidlich das künstlerische Individuum auf, es wird im „Stil“ sichtbar, es schafft, wie Richter es nennt, „Modelle“ der Wirklichkeit.

Verteidigung der Abstraktion

Er male abstrakt, lautet ein dominantes Anti-Richter-Argument linker Freundinnen und Freunde der Welt der Bilder, ein anderes: Richter male, wenn figurativ, einfach nur Fotos ab, und was für Fotos – Blumen, Wolken, Kerzenkitsch und Meereshorizonte! Hinsichtlich der Abstraktion schwingt der Vorwurf mit, Richter blende mit der gegenständlichen Welt auch den „Inhalt“ aus. Einer seiner vehementesten Kritiker war der, seine Kunst mit einem selbsterteilten Kampfauftrag verbindende Zeichner und Bildhauer Alfred Hrdlicka (1928–2009). In seinem Selbstverständnis als Künstler ein bis aufs Mittelalter zurückreichender Handwerker, ein technisch an die Griffelkunst Rembrandts und Goyas, an die Marmorkunst Michelangelos anknüpfender, sie muskulös weiterführender Marxist, ergab sich für einen Künstler seiner Sorte die Form allein aus der Auseinandersetzung mit dem Inhalt: „So lieb ist der liebe Gott nun auch wieder nicht“, ätzte er witzig, „dass er dem, der keinen Inhalt hat, die Form dazu schenkt.“

Frans Hals (1582-1666) Lachendes Kind

Die Themse vor der Tate Modern, etwa 140 Jahre zurück, liegt auch in einem Bild des Impressionisten Claude Monet vor. Da spiegelt sich eine kleine Abendsonne in glühendroten Farben im in viele graue Pinselstriche aufgelösten Dunst und Wasser vor einer verwischt blaugrauen Ahnung des Londoner Hafens. William Turner hat auf einem Bild, das auf dem Themseufer gegenüber in der alten Tate hängt, ein Schiff auf einer meterbreiten Leinwand in einem Malstrom spritzender und wogender und schäumend strudelnder ölgesättigter Farbpigmente verschwinden lassen. Schon dem Holländer Frans Hals, löste sich die Abbildung in farbige Pinselstriche auf (bei van Gogh bekommen die Pinselstriche eine der Hauptrollen). Durch die Zeiten tritt das Kriterium der Widererkennbarkeit hinter die immer wachsende Wirkung der Mittel zurück, die ihretwegen aufgewandt werden. Durch die Kunstgeschichte zieht sich eine Tendenz des bildnerischen Artefakts vom Abbild der Welt zu einem ihrer ästhetisch autonomen Gegenstände.

Der „Birkenau“-Zyklus

Der Titel der vier großen Querformate des „Birkenau“-Zyklus von 2014, derzeit in der Berliner Neuen Nationalgalerie noch bis 2026 zu sehen, widerlegt die Ansicht, Richter würde seiner gesellschaftlichen Verantwortung als Künstler nicht gerecht (sie ist durch eine Vielzahl seiner Foto-Bilder ohnehin seit Jahrzehnten widerlegt). Der Ausgangspunkt der vier „Birkenau“-Bilder sind vier Fotos, die mittels einer hereingeschmuggelten Kamera von einem der todgeweihten Mitglieder der an den Verbrennungsöfen eingesetzten jüdischen Häftlinge geknipst und von anderen aus dem KZ Auschwitz-Birkenau wieder herausgeschmuggelt wurden. Richter malte lange daran, er malte und änderte. Und übermalte am Ende alle vier abstrakt. Der Zyklus heißt gleichwohl nicht zufällig weiterhin nach dem Ort der vier Fotos. Wie die Diskussionen um diesen Zyklus zeigen, trägt Richter offensichtlich dazu bei, Auschwitz, das klaffende schwarze Loch in der deutschen Geschichte, abermals ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, möglicherweise irgendwann auch wieder das unvermeidlich bleibende Nachdenken anzuregen über die Rolle der reichsdeutschen Eliten beim Zustandekommen dieses Lochs.

Warum, könnte man fragen, soll dieser Prozess mit den Gemälden Kandinskys, Mondrians, mit den Arbeiten der russischen Avantgarde nach der Oktoberrevolution, innerhalb eines historisch relativ kurzen Zeitraums plötzlich enden, warum sollte er in einem als Dead End abgewerteten Abstraktionismus ad acta gelegt werden? Die gegenständliche Malerei in Europa und Übersee hat seit mindestens 800 Jahren immer neue Wege gefunden, die Gegenständlichkeit auszugestalten; sie wird, gesellschaftlich getrieben, immer weiter neue Wege finden. Einer dieser Wege führt, nachdem die Bilder sich durch die Jahrhunderte in ihrer Darstellung des Sichtbaren immer abstrakterer Mittel bedient haben, auch in die Autonomie des Bilds. Je „abstrakter“ die Bilder im Lauf der Kunstgeschichte in ihren Mitteln werden – siehe Frans Hals, siehe Monet, siehe Turner –, desto reichhaltiger wird die betrachtende Fantasie durch sie belebt. Das abstrakte Bild bietet in dieser Hinsicht das Maximum.

Eines der Querformate des “Birkenau”-Zyklus

Vier abstrakte Querformate. Wo bleibt da Birkenau? Die Antwort der Bilder Richters macht sich an den vier, im unausweichlichen Vergleich mit den Gemälden stehenden, nicht gar so kleinen Vergrößerungen der Fotos fest, die am Rand der Präsentation der Gemälde zu sehen sind: was an diesen Fotos hat den Maler scheitern lassen? Er selbst sagt: „Sie sind einfach zu gut“. Richters Übermalungen wären ergo kein Selbstzweck. Sie stehen zu ihrem Ausgangspunkt in einem Verhältnis, das es unterm Strich am Anfang der Arbeit aussichtsreich erscheinen lassen muss, sich der Mühe zu unterziehen, dem Ausgangspunkt so viel Kunst hinzuzufügen, dass er als eigengültig Anderes weiterleben kann. Die in schwarzweißen Ölfarben gemalten vier „Birkenau“-Fotobilder konnten nicht weiterleben: die Shoa, mit vielleicht der Ausnahme einiger dokumentarischer und fiktionaler Filme, bleibt undarstellbar.

Niemand, auch Gerhard Richter nicht, wird behaupten wollen, in den vier abstrakten „Birkenau“-Querformaten habe er es nun doch irgendwie geschafft, das Grauen darzustellen. Aber niemand wird auch behaupten, sie seien ein Ausdruck von Fröhlichkeit. Sie sind in gedeckten, stumpfen Tönen von Grau, Schwarz, Weiß, Braun und Dunkelgrün gehalten. Sie rufen Empfindungen wach, die in all ihrer individuellen Verschiedenheit in einem Zusammenhang mit den Fotos stehen, mit dem Thema „Birkenau“. Empfindungen haben ein Gedächtnis, sie haben ein Umfeld. Warum sollte man Empfindungen Inhaltlichkeit absprechen? Mit den Blumen, den Wolken, den Meereshorizonten ist es Richter mit der malerischen Transformation fotografischer Abbildungen gelungen, das Weltgefühl eines Blumen malenden Caravaggio, eines wolkenvernarrten Ruijsdal, eines den Abendhimmel vergötternden Caspar David Friedrich in die von digitalen Medien überreizte Sichtweise, ins gehetzte Lebensgefühl und die daraus resultierenden Sehnsüchte der in der Gegenwart Lebenden zu übersetzen. Mit seinen abstrakten Gemälden erreicht er auf anderen Wegen dasselbe. Mit den „Birkenau“-Fotovorlagen ist ihm das nicht gelungen.

Für einen Künstler wie Gerhard Richter ist Eindeutigkeit ein No go, gleichbedeutend mit der Bevormundung des Publikums, mit einer Einengung der Möglichkeiten des Publikums, sich mit einem Bild ungestört auseinanderzusetzen, das muss erlaubt sein. Man kann gleichwohl bei vielen seiner Bilder den Eindruck haben, als sei es ihm ganz und gar nicht gleichgültig, mit was sich die Leute beschäftigen und was sie über die Welt denken. Die Unterstellung von so etwas wie Beliebigkeit im Zusammenhang mit diesem Maler darf sich über den Vorwurf der Ignoranz nicht beklagen.

Ein Moralist?

Richter hat seit seinem ersten abstrakten Bild anno 1966 nie und in keiner seiner vielen Ausgestaltungen von Malerei einen prinzipiellen Unterschied zwischen abstrakt und gegenständlich gemacht. Alles für ihn ist Malerei. Abbild und autonom, eins geht ins andere über. In der luzid lebensfrohen Abstraktheit seiner Kirchenfenster bezieht er das bei entsprechendem Licht von außen bunt durchfunkelte Dunkel eines sandsteinernen Kircheninneren in sein Bild mit ein. In „September“ von 2005 (einem weiteren Indiz für Richters Offenheit zur Welt hin) ist die Ikone der New Yorker Zwillingstürme mit der hellen Rauchwolke vorm blauen Himmel nur noch zu ahnen – ein Spiel von Horizontale und Vertikale. In den hektischen Abstraktionen in hoher Geschwindigkeit verwischten, verspachtelten Blaus und hellen Graus wird die Dramatik des Moments, die Verwirrung, die er spontan bei allen auslöste, die ihn medial live miterlebten; wird vor allem auch die ganze Undurchsichtigkeit dieses seltsamen, in dringendem Verschwörungsverdacht verbleibenden Ereignisses spürbarer als auf allen mir bekannten Fotos. Der Übergang zur Abstraktion ist kaum noch erkennbar.

„Weil alles Unbekannte uns ängstigt und gleichzeitig hoffnungsvoll stimmt“, sagt er, wie immer gut abgepolstert, darum „nehmen wir die Bilder als Möglichkeit, das Unerklärliche vielleicht etwas erklärlicher, auf jeden Fall aber umgänglicher zu machen.“ In seiner ganzen Widersprüchlichkeit und gewollten Verwischtheit, scheint da in dem Maler Gerhard Richter immer wieder so etwas wie ein Moralist aufzuglimmen. Danach klingt auch das letzte Zitat: „Die Kunst“, sagte er einmal, sogar das Pathos nicht vermeidend, „ist die höchste Form von Hoffnung.“ Hoffnung worauf? Das darf im Namen der Malerei mit Richters Bildern vor der Nase jedes für sich selbst herausfinden. junge Welt November 2023

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