Interview Duras

Der Text ist eine Übersetzung von Ausschnitten aus folgendem Interview:

https://www.ina.fr/ina-eclaire-actu/video/i04275518/marguerite-duras-a-propos-de-l-an-2000

Die Menschen haben schon immer Antworten gebraucht, auch wenn sie sich eines Tages als falsch oder nur vorläufig herausstellen. Wo werden also im Jahr 2000 die Antworten sein?

Es wird nichts anderes mehr geben. Die Frage wird so allgegenwärtig sein, dass es nur noch Antworten geben wird. Im Grunde werden alle Texte Antworten sein. Ich glaube, dass der Mensch buchstäblich in Informationen ertrinken wird, in einer ständigen Information über seinen Körper, über sein körperliches Werden, über seine Gesundheit, über sein Familienleben, über sein Gehalt, über seine Freizeit. Das ist nicht weit von einem Albtraum entfernt. Es wird niemanden mehr geben, der liest. Sie werden fernsehen. Überall wird es Fernsehgeräte geben: In der Küche, in den Toiletten, im Büro, auf der Straße. Wo werden wir sein, während wir fernsehen? Wir werden nie allein sein. Wir werden nicht mehr reisen. Es lohnt sich nicht mehr zu reisen. Wenn man in acht Tagen oder vierzehn Tagen um die Welt reisen kann, warum sollte man es dann tun? Auf der Reise geht es um die Zeit die man dabei verbringt. Es geht nicht darum, schnell zu sehen, es geht darum, gleichzeitig zu sehen und zu leben. Es wird nicht mehr möglich sein, reisend zu leben. Alles wird verstopft sein. Alles wird verplant sein. Trotzdem wird es noch das Meer geben, die Ozeane. Und dann das Lesen. Man wird es wieder entdecken. Der Mensch wird eines Tages wieder lesen. Und dann wird alles wieder von vorne anfangen. Alles wird wieder kostenlos sein. Das bedeutet, dass die Antworten zu diesem Zeitpunkt weniger Gehör finden werden. Es wird mit einer Disziplinlosigkeit beginnen, einem Risiko, das der Mensch sich selbst gegenüber eingeht. Eines Tages wird er wieder allein sein mit seinem Unglück und seinem Glück, das aber aus ihm selbst kommt. Vielleicht werden diejenigen, die sich aus dieser Situation befreien, die Helden der Zukunft sein. Das ist sehr gut möglich. Hoffen wir, dass es sie noch geben wird. Ich erinnere mich, dass ich etwas gelesen habe, in einem Buch eines deutschen Autors aus der Zwischenkriegszeit. Es hatte den Titel „Der letzte Zivilist“ von Ernst Glaeser. Dort habe ich gelesen, dass, wenn die Freiheit die Welt verlassen hat, immer noch ein Mensch übrigbleiben würde, um von ihr zu träumen. Das glaube ich. Ich glaube sogar, dass es schon begonnen hat.