Köthener BachCollektiv.Midori Seiler et al.

Es stellen sich den Musikern in der sogenannten „klassischen Musik“ immer wieder die gleichen Fragen. Die Geigerin Midori Seiler (bitte nicht zu verwechseln mit der US-amerikanischen Geigerin mit dem gleichen Vornamen als Künstlernamen) stellt sich solche Fragen in ihrem neuen Album „Bach’s Virtuosos“ gleich zu Beginn: „Wer bin ich, wenn ich spiele“, fragt sie im Booklet. „Wie ist meine Beziehung zur Komposition, zur komponierenden Person?“

MIdori Seiler

Die komponierende Person Bach hat in Vorahnung solcher Probleme seinen Text mit einer in seiner Zeit umstrittenen Fülle von Ausführungsanweisungen versehen. Die Virtuosen des 18. Jahrhunderts waren gewohnt, den Raum, den ihnen die vorliegenden Noten ließen, mit eigenen Verzierungen und Überleitungen zu füllen und im Verständnis des Publikums die rudimentäre Komposition auf diese Weise erst zu vollenden.

Das Wissen um die damaligen Spielkonventionen, in deren Rahmen solche Vervollständigungen stattfanden, ist verlorengegangen. Die neue CD erzählt davon, wie historisch-kritisches Musizieren auf alten Instrumenten im Zug der Wiederherstellung dessen, was nicht in den Noten steht, den „kulturellen Kontext“ einbezieht, in dem Bachs Köthener Schaffen (Brandenburgische Konzerte, Cello-Suiten, Partiten und Sonaten für Violine solo, Goldberg Variationen) entstehen konnte.

Das Köthener BachCollektiv wurde 2016 eigens für die alle zwei Jahre stattfindenden Köthener Bachfesttage gegründet. Es musiziert das einleitende Violinkonzert von Joseph Spiess, die Suite von Georg Linike und die das Französische mit dem Italienischen legierende Sonate für zwei Violinen von Augustin Reinhard Stricker – alle drei Musiker waren Bachs Köthener Hoforchesterkollegen – so virtuos, geladen mit so volkstänzerischem, italienisierendem Impuls und Charme, dass die verbreitete Mäkelei, da würden doch nur wieder mal langweilige Nebenwerke ausgegraben, im Keim verstummt.

Der geradezu experimentelle Charakter dieser Produktion tritt in den beiden Bachwerken hervor. Auch sie keine „Originale“. Midori Seiler, zusammen mit Mayumi Hirasaki, die Spirita Recta des BachCollektivs, hat Bachs in Köthen komponiertes, aber verschollenes Violinkonzert g-Moll BWV 1056R auf eigene Faust, mit viel Fleiß, Intuition und Risiko für die Geige rekonstruiert; so machten es mit eigenen und fremden Werken zur Bachzeit alle Komponisten. Das auf begleitenden Pizzicati der Bässe gesungene Largo, man hat es als Oboensolo aus der Sinfonia der Bachkantate BWV 156 im Ohr, gelingt ihr in kunstvollen Verschleierungen der Dynamik besonders anrührend. Eigentümlich auch der langsame Satz des Bachkonzerts für drei Violinen und Streicher D-Dur, von Seiler, Hirasaki sowie Georg Kallweit von der berliner Akademie für Alte Musik kollektiv nach der erhaltenen Transkription von Bachs Hand für drei Cembali als BWV 1064R wiederhergestellt. Da schwebt ein Terzett kaum verzweigter solistischer Streicher überm harmonisch sparsam aufgefüllten Bass. Gedehnte Lamento-Stimmung. Sie löst sich im abschließenden Allegro in einen, an Bachs berühmtes Doppelkonzert d-Moll erinnernden, schwungvollen Kontrapunkt. Gelungenster Ausdruck für die für Bach so erfreulichen, kreativen sechs Jahre am musikliebenden, kirchenfernen Köthener Hof ist am Ende von BWV 1056R das energiegeladene, immer neu von einem feinen Echo-Effekt gebremste Presto.

Concerto BWV 1056R – II: Largo

Die Barockmusikszene – mit kräftigen Trieben auch schon im Mozartbeet – hat sich zu einer eigenen Welt ausgewachsen. Sie erweist sich in dieser Aufnahme einmal mehr als Dynamo einer der Repräsentation erlegenen, auf einen kleinen Teil „toter Komponisten“ (Enno Poppe) reduzierten Klassikwelt. Die Geigenstars der Barockszene touren nicht im langen Silbernen über die Solisten-Bühnen. Durchweg weiblich, arbeiten sie oft als Konzertmeisterinnen kleiner Spezialensembles. Es hat bei ihnen eben nicht gelangt für die große Karriere, sagt der Mainstream. Umgekehrt. Was die Wahrnehmung der Besonderheit von Musikerinnen wie Midori Seiler, Mayumi Hirasaki oder etwa auch Daniela Helm angeht, langt es beim Mainstream nicht. junge Welt, April 2023

Bachs Virtuosos: Joseph Spiess, Augustin Reinhard Stricker, Georg Linike + 2 Bach-Bearbeitungen BWV 1056R – Midori Seiler / Mayumi Hirasaki / Freiburger Barockorchester (Harmonia Mundi France)

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