Durchbruch bei Stalingrad (2018)

Heinrich Gerlachs antifaschistischer Roman »Durchbruch bei Stalingrad« ist ein verstörendes Zeitzeugnis – und eine literarisch beeindruckende Schilderung des Untergangs der Sechsten Armee

Alle das Gute in uns bejahende Menschen hassen den Krieg. Neben der Liebe ist er das große Thema aller Künste. Den Krieg verherrlichende Kunstwerke von Rang muss man suchen. Dagegen Goyas »Desastres«, Picassos »Guernica«, das »Dona nobis pacem« in den Messen von Bach bis Britten, die großen Tragödien von Sophokles bis Oliver Stone und Akira Kurosawa, für immer  Tolstois »Krieg und Frieden«, drängen sich auf, sie werden die Menschen bewegen, noch wenn es – die Weiterexistenz der Menschheit vorausgesetzt – keine Kriege mehr geben wird.

Seit Troja und Karthago sind es bis in die Zeiten von Leipzig, Waterloo und Sedan  die Orte der Metzeleien, deren Namen – bei Straßen und Denkmälern meist rühmend, in großen Kunstwerken immer mahnend – an den Krieg erinnern. Bevor der Klang der Städtenamen ins Vietnamesische, Paschtunische und Arabische wechselte, war es eine sowjetrussische Stadt, die die Menschheitskatastrophe verkörperte, die der Krieg bedeutet: Stalingrad.

In Paris heißt eine Metrostation nach der Wolgametropole. In Deutschland, das zum Krieg und insbesondere zu Stalingrad ein ganz besonderes Verhältnis hat, sucht man derlei vergebens. Goebbels’ Propagandaspezialisten gingen anlässlich der Schlacht um Stalingrad Sätze wie: »Sie mussten sterben, damit Deutschland lebe«, wie Öl von den Lippen; sie machten nach 1945 bei Spiegel und Stern weiter. Menschen wie der studierte Germanist und Lateiner Heinrich Gerlach, 1908 in Königsberg  geboren und ausgebildet, litten in und an Stalingrad. Er wurde 1939 »eingezogen«, zu deutsch: Er wurde dem Leben, seiner jungen Familie und sich selbst entzogen, in eine Uniform gesteckt und bekam als einer von Millionen eines der Gratislose der großen Volkslotterie namens »Soldatentod«. Wir wüssten nichts von ihm, hätte es ihn nicht Ende 1942 als Oberleutnant der Nachrichtenabteilung einer Panzerdivision an die Wolga verschlagen. Ein zum deutschen Machthaber und Feldherren aufgestiegener Weltkriegsgefreiter aus dem oberösterreichischen Braunau am Inn war von dem Gedanken besessen, die Stadt an der Wolga zu erobern. Er hätte es fast geschafft. Aber die Rote Armee unter einem zum Marschall der Sowjetunion aufgestiegenen Kürschnerlehrling aus Kaluga schloss die deutsche Sechste Armee und ihren preußisch-aristokratischen Elitegeneralstab bei Stalingrad ein und vernichtete sie. Heinrich Gerlach ist vom ersten Tag an im Kessel. Drei Monate später, im Februar 1943, geht er in sowjetische Gefangenschaft. Er lebt!

Das wiedergefundene Manuskript

Im Sommer beginnt Gerlach, den blutigen Alptraum aufzuschreiben. Es wird ein Roman daraus. »Durchbruch bei Stalingrad« steht auf dem Titel. Am 8. Mai 1949 ist das Manuskript fertig. 614 Seiten. Die Sowjetunion entlässt einen Großteil ihrer deutschen Kriegsgefangenen. Gerlach ist nicht darunter. Dabei ist er Gründungsmitglied des in der Gefangenschaft gegründeten Bundes deutscher Offiziere (BdO), der sich buchstäblich an vorderster Front darum bemühte, die ehemaligen Kameraden jenseits der Hauptkampflinie zur Beendigung ihrer Opferung für ein verbrecherisches Regime zu bewegen. Er arbeitet im Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), einem von exilierten deutschen Antifaschisten organisierten Versuch, gefangene Offiziere und Soldaten auf der Grundlage bürgerlicher Werte gegen Hitler zu mobilisieren (seine Familie in Deutschland wird dafür in Sippenhaft genommen). Er kommt, von Wilhelm Pieck bis Johannes R. Becher, mit vielen Politikern und Kulturschaffenden der späteren DDR in Kontakt. Alfred Kurella versorgt ihn mit Schreibpapier. Aber die ihn vernehmenden Politbüromitglieder in spe Walter Ulbricht und Rudolf Herrnstadt halten ihn irrtümlich für nicht aufrichtig. Für die sowjetischen Behörden ist der vormalige Divisionsaufklärer ein Mitglied faschistischer Nachrichtendienste.

Das Textkonvolut wohlversteckt im Gepäck, durchläuft Gerlach mehrere Kriegsgefangenenlager. »Im Dezember 1949«, schreibt er, »verfiel das so lange sorgsam gehütete Manuskript der Beschlagnahme durch das MWD (Ministerium des Innern; S. S.).« Erst 1950 kehrt er heim, wird Lehrer in Brake an der Unterweser und schreibt den Roman unter abenteuerlichen

Heinrich Gerlach nach dem Krieg

                         Umständen mit Hilfe eines Hypnosearztes aus dem Gedächtnis noch einmal neu. »Ich bin besessen von dem Gedanken«, heißt es in einem Brief, »dass dieses Buch erscheinen muss, gerade in unserer Zeit, die drauf und dran ist, über den Vorbereitungen eines neuen Krieges die Schrecken des vorigen zu vergessen.« Unter dem aktualisierten Titel »Die verratene Armee« erscheint das Werk 1957. Längst arbeiten die militärischen und politischen Nachfolger des oberösterreichischen Feldherren-Gefreiten in Bonn an der Revanche für die Niederlage bei Stalingrad. Dass Gerlachs Roman ein internationaler Bestseller wird und die Bemühungen der Bonner Hitler-Nachfolger zunächst scheitern, hat dieselbe Ursache: Die Erinnerung der Opfer an die Schrecken des Krieges ist noch frisch, zu frisch.

Der Kalte Krieg musste vorläufig enden, die Moskauer Archive mussten sich öffnen, damit das schwere, mit Schusterdraht zusammengehaltene Papierpaket des ursprünglichen Manuskripts nach fast 70 Jahren 2011 auf einem Tisch des Moskauer russischen Militärarchivs vor dem Literaturwissenschaftler Carsten Gansel zu liegen kam. Umfangreiche Recherchen des überwiegend mit neuerer deutscher Literatur befassten Professors – ein bei aller Wahrhaftigkeit recht wendiger Ex-DDR-Germanist – hatten es möglich gemacht. 2016 kam die von Gansel herausgegebene und mit einem materialreichen und lesenswerten Nachwort versehene mühselige Rekonstruktion des Originals heraus. Seit dem vergangenen Jahr liegt sie als Taschenbuch vor*.

Fiktion und Wirklichkeit

Heinrich Gerlach wollte nie mehr sein, als er war, ein Gymnasialprofessor in der deutschen Provinz. Sein Roman ist großartig, packend geschrieben, ehrlich, drastisch und literarisch versiert. Er hat ihn verfasst, nicht um berühmt, sondern um gesund zu werden. Krieg tötet. Auch wer ihn überdauert, ist fürs Leben krank. Gerlach hat sich in »Durchbruch bei Stalingrad« die kalte Hölle von der Seele geschrieben, in die gewissenlose Staatsgangster ihn und seine Kameraden im Winter 1942/43 erst hineinbefahlen, um sie dann darin allein zu lassen. »Alles, was die Romanhandlung an Begebenheiten schildert, war irgendwann und irgendwo auf den Schneefeldern vor Stalingrad und in den Trümmern der Stadt einmal Wirklichkeit«, schreibt Gerlach im kurzen Nachwort.

Paulus und Schmidt, gefangen

Gerlach verzichtet auf einen auktorialen Erzähler. Was er zum Krieg, zum Verrat der Hitler-Brut an 300.000 Soldaten zu sagen hat, denkt oder sagt eine sozial, psychologisch und militärisch repräsentative Reihe lebendig konkreter Gestalten, unter ihnen das Alter Ego des Autors, der Oberleutnant Breuer, und sein proletarisches Seitenstück, der Fahrer Lakosch. Jede Erkenntnis des an inneren Monologen und Gesprächen reichen Buches ist durch das mitreißende Geschehen beglaubigt, beatmet, durchblutet, durchfroren.

Über eben noch matschige, jetzt vom ersten Frost gehärtete Schlammwege zwischen Wolga und Don saust am Beginn des Romans Anfang November 1942 ein grauer, kleiner Kraftwagen, Lakosch am Steuer, Breuer frierend auf dem Beifahrersitz. Die Stimmung ist bestens. Man hat die »Pleite« des vergangenen Winters verdaut. Mit frischen Kräften, gegen einen vermeintlich geschwächten Gegner, hofft und träumt und wähnt man sich bald schon in den Palmenhainen am Schwarzmeerufer und in den Schluchten des Kaukasus, ja die beiden reden darüber, dass man möglicherweise in Winterquartieren ausruhen und vielleicht sogar Weihnachten nach langer Trennung zu Hause bei den Familien feiern könne.

Auf gut fünfzig Seiten exponiert Gerlach mit jeweils wenigen Worten eine Achtung gebietende Zahl von Soldatenfiguren; er wird sie 600 Seiten lang mit einer an Tolstoi gemahnenden Übersicht und Logik durch die Tragödie begleiten. Einigen erlaubt ihre Stellung in der Hierarchie Erinnerungen an gelegentliche Begegnungen mit höchstgestellten Akteuren des historischen Geschehens. So belauscht der ehrgeizige junge Karrierist Unold, Generalstabsoffizier der Division Breuers, im Dezember 1941 ein Gespräch zwischen den Generälen von Brauchitsch und von Rundstedt. Moskau war soeben unerreichbar. Brauchitsch: »Nach Mobilisierung der zweiten und dritten Welle werden 400 russische Divisionen den 175 deutschen gegenüberstehen. Mit unseren Kräften diesen Gegner zu schlagen ist nicht möglich.« Der Oberbefehlshaber des Heeres scheint Realist zu sein. Ginge es nach ihm, müsste die durch die Niederlage vor Moskau im Winter 1941/42 geschwächte Wehrmacht sich, will sie militärisch überleben, unverzüglich auf eine Linie in Höhe etwa der baltischen Memel zurückziehen und dort zur Verteidigung einrichten. Hitler entließ Brauchitsch Ende Dezember 1941; schon Oberbefehlshaber der ganzen Wehrmacht, übernimmt der Gefreite nun auch noch den Heeresoberbefehl.

Breuer und Lakosch haben ihre Division am Don kaum erreicht, da findet die Frage, die sich viele ihrer Kameraden beim etwas bedrohlichen Anblick der massigen, dunklen Wälder jenseits des Frontflusses stellen – Was verbirgt sich in ihnen? Hat »der Russe« die Kraft, noch einmal anzugreifen? – eine Antwort: »Da! – Plötzlich zischt und schwirrt es böse und unheimlich, schwillt grässlich an über den ganzen Frontabschnitt hinweg. (…) Schreckensschreie, Warnrufe. Und schon bricht das Unwetter los. Zu der Unzahl von ›Stalinorgeln‹ (bzw. Katjuscha-Mehrfachraketenwerfern; jW) gesellen sich Geschütze aller Kaliber. Eine Wand von haushohen Erdfontänen schießt empor, schiebt sich über die berstenden Minenfelder im Vorgelände hinweg, zerfetzt die Drahthindernisse, befällt Gräben und Maschinengewehrnester, Holzteile, Waffen und Menschenleiber mit sich emporwirbelnd, und rollt auf die rückwärtigen Artilleriestellungen zu. Das brodelt und rauscht und heult und kracht. (…) Die Erde selbst, zerrissen und zerfetzt, duckt sich unter dem höllischen Ausbruch der Materie. Was ist der Mensch?«

Gerlach ist durchaus kein Heinz Konsalik, eher ein Erich Maria Remarque, ein Arnold Zweig; im resümierend verzweifelten »Was ist der Mensch?« auch ein Alfred Döblin. Die Deutschen sind überrumpelt. Dass jemand einen Frontabschnitt von 50 Kilometern mit nur einer Division halten könnte, galt vor Hitler als unmöglich. Spätestens nach Stalingrad ist klar: Es war immer unmöglich. Nur Zocker und Blender wie der oberösterreichische Gefreite vermochten so etwas kurzfristig vorzugaukeln. Nun brechen die Soldaten der Roten Armee bis zu 60 Kilometer durch die Front. Kurze Zeit später gelingt ihnen dasselbe im Süden. Beide Male an Frontabschnitten, die von rumänischen Soldaten besetzt sind, die offensichtlich inniger am Leben hängen als ihre deutschen Bündnispartner und die an einem für ihre Zahl und Ausrüstung viel zu langen Abschnitt eingesetzt sind. Breuer, Lakosch und die Division retten sich überstürzt nach Osten Richtung Wolga und Stalingrad. Aus Dialogen der »Landser« und Besuchen in Funkerbunkern erfährt man: Beide russischen Stoßkeile (Rokossowski und Watutin) treffen  am 23. November bei Kalatsch am Don aufeinander. Der Kessel ist geschlossen.

Im Kessel

Immer eng am Geschehen in den unterirdischen, von oben nur durch einen Schornstein kenntlichen, bei Temperaturen von teilweise unter 40 Grad Minus kaum heizbaren Erdbunkern und Stellungen der Eingeschlossenen, schildert Gerlach, wie die kommandierenden Generäle um den Chef des II. Armeekorps, General von Seydlitz-Kurzbach, den willensschwachen, Hitler nicht gewachsenen Oberbefehlshaber der Sechsten Armee, General Paulus, vorschicken. Er soll den obersten Alleskönner in Berlin davon überzeugen, dass ihre Lage auf Dauer militärisch aussichtslos ist, allein ein unverzüglicher Ausbruch nach Westen sei erfolgversprechend. Abgelehnt. Göring und Hitler sagen in einer im Roman zu verfolgenden Sitzung des Oberkommandos der Wehrmacht vollmundig Versorgung aus der Luft und Entsatz von außen zu. Als sich beides als leere Versprechung erweist, ist es für einen erfolgreichen Ausbruch zu spät. Der Kessel wird zur Todesfalle (von 300.000 deutschen Soldaten kehren aus Stalingrad etwa 6.000 in die beiden deutschen Staaten zurück).

Die Munitionsrationen verkleinern sich bedrohlich, vom Essen nicht zu reden. Winterkleidung gibt es kaum, man improvisiert, das Äußere der Armee verwandelt sich ins hilflos Phantastische, Hygiene und Körperpflege werden zu Fremdwörtern. Als der Armeestab noch in prachtvoll ausgebauten, komfortabel eingerichteten Bunkern an einem Steilhang am Don liegt, findet Breuer, auf Vorgesetzte wartend, beim Blättern in einer heimatlichen Illustrierten einen Bildbericht: »Ein junges Mädchen kommt nach Kiew«. Auf den Fotos geht die junge Frau stolz erhobenen Hauptes – ihren Koffer schiebt in einem Handwagen ein kleiner »Eingeborener« hinterher – durch die Trümmer der eroberten Stadt, nimmt ein Sonnenbad am Dnjeprstrand. Breuer kommt ins Grübeln. Für »diese neue, nette Rolle des ›Herrenmenschen‹« kämpfen wir doch wohl nicht (das ist 1943 geschrieben!). Wofür aber? »Sehr fern fühlte er sich von diesen Menschen, von ihrem Leben und Denken, um Jahrzehnte voraus.«

In einer der vielen Actionszenen des Romans rettet bei einer Fahrt durch verschneites Gelände Lakosch durch Geistesgegenwart dem Hauptmann Endrigkeit und Breuer das Leben. Lakosch hatte als erster erkannt, dass es sich bei den Gestalten in weißen Tarnanzügen, die ihnen entgegenkommen, nicht um eigene Soldaten, sondern um einen in Feindgebiet vorgedrungenen russischen Spähtrupp handelte. Von Lakosch erfährt man, er sei Bergmannssohn. Sein Vater, Kommunist, verschwand im KZ. Lakosch ist einer der vielen Proletarier, die den Nazis auf den Leim gehen und ihnen abnehmen, sie seien eine Arbeiterpartei, nur weil sie ihrer kapitalistischen »National«-Kathedrale ein leeres »Sozialismus«-Häuschen ankleben. Er glaubt naiv an diesen »Sozialismus«, wie er 1938 auch glaubt, dass die braunen »Sozialisten« seinen Vater, wie man ihm mitteilt, auf der Flucht erschossen hätten. Die Mutter hat ihn, als er sich den Nazis zuwendet, verstoßen. Wann immer er kann, schickt er ihr trotzdem etwas von seinem kargen Sold. Nun bekommt er einen Brief von ihr, in ungelenkem Deutsch, voll strenger, großer Liebe. Ob er nun endlich erkenne, wie recht der Vater gehabt habe? Er zieht sich in sich selbst zurück. Irgendwann ist er verschwunden, mit Gewehr, alles sieht nach Desertion aus. Er wird Tage später aufgegriffen, zum Tode verurteilt. Verantwortlich für die Exekution: Hauptmann Endrigkeit. In der Nacht vor der Urteilsvollstreckung besucht der Hauptmann seinen Lebensretter. Ein langes Gespräch. Lakosch erzählt sein Leben und wie er dem Verhör eines gefangenen sowjetischen Offiziers beiwohnte, eines Literaturkritikers mit perfektem Deutsch. Die Sowjetvölker, hatte er gesagt, verteidigten »die Freiheit, die Rechte der Menschen und die Errungenschaften der Großen Sozialistischen Revolution. Darum werden wir siegen.« Lakosch hatte damals sehr genau hingehört. Er reicht dem Hauptmann jetzt einen zerknitterten Brief mit der Adresse der Mutter. »Wenn Herr Hauptmann ihr vielleicht schreiben wollten, dass ich … dass ich nun doch auf den richtigen Weg gekommen bin.« Der Hauptmann atmet schwer. Sein Kopf ist rot. »Raus!« schreit er. »Und lassen Sie sich ja nicht wieder hier wo blicken, Sie Kerl!« Diesmal glückt Lakosch der Weg ins Leben.

Brot und Wurst

»Rings vor der Front flackerte unbekümmert der Schein russischer Lagerfeuer«, beschreibt Gerlach den Blick aus dem elenden, frierenden, hungernden, pausenlos unter Beschuss liegenden Kessel hinüber »zum Feind«. Dort würden die Deutschen, so Goebbels’ Einpeitscher, von den Untermenschen sofort bei Gefangennahme per Genickschuss erledigt. Bei Gerlach kehrt ein kleiner, spitznasiger Landser von hinter den russischen Linien zurück. »Los, Mann, erzähl!« – »Die Russen … och, die sind gar nicht stur! Erst haben sie uns die Waffen abgenommen und dann noch Taschenmesser, Uhr und Feuerzeuge. Und dann haben sie uns zu essen gegeben: Brot, soviel    wir wollten, und Wurst und Speck und Käse …« (In den KZs der Nazis – in Buchenwald per Genickschussanlage – wurden 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ermordet.)

Überall drückt die Rote Armee den Kessel zusammen. Er verkleinert sich rapide, mit ihm die Zahl der überlebenden deutschen Soldaten. Die auf dem Schlachtfeld verendeten Pferde sind über Nacht ausgeschlachtet und abgenagt, Hunde gibt es längst nicht mehr, der Hunger höhlt die Männer aus. Dürftig gekleidet, harren sie, ständig russischer Angriffe gewärtig, bei klirrendem Frost in mit Zeltplanen abgedeckten Schützenlöchern aus. Ein Flugplatz nach dem anderen geht verloren. Der ohnehin lächerlich knappe  Nachschub kommt zum Erliegen. Statt der längst überfälligen, immer wieder erbetenen und in Berlin immer wieder abgelehnten Kapitulation werden die zu Tode erschöpften Soldaten zu immer neuen, immer sinnloseren Opfern gezwungen. Die Russen spalten den Restkessel. Die Fronten in den Trümmern der Stadt sind am Ende kaum mehr als zwei Kilometer lang. Der eigentliche Oberkommandierende der Sechsten Armee, Generalstabschef Arthur Schmidt, Gerlach beschreibt ihn als glühenden Nazi, versucht mit Blutbefehlen – »Erschossen wird, wer …« – das Allerletzte aus den Soldaten herauszuholen. Schmidt stirbt, bestens berentet, 1987.

»Sie haben tot zu sein«

In den letzten Szenen des Buches kommen zwei der Figuren an ihr Ende. »Drei Wände ohne Dach, die Reste eines Schuppens, einer Garage. Fröhlich erkennt, er ist nicht allein. Rings um ihn in Schutt und Schnee zehn, fünfzehn Menschen. Das Haus ist über ihnen zusammengebrochen. Hier liegen sie nun, missbraucht und verstümmelt, erschlagen schon und doch noch nicht tot. Glieder – blau, schwarz, verfault oder blutiger Brei aus Stoff, Fleisch und Knochen. Es lallt und winselt, röchelt und stöhnt. Zwei brennende Augensterne, weiß umrandet, flackern Fröhlich an, eine Skeletthand reckt sich gegen ihn aus.« Szenenwechsel. Nicht weit weg, im Lazarett. »Geibel liegt im Fieber und phantasiert. Er weiß nicht, dass er zu den ›Auserwählten‹, zu den wenigen gehört, an denen sich die Ärzte (um überhaupt noch etwas zu tun und sich selbst zu betäuben) noch einmal versuchen wollen. Im Ätherrausch liegt er auf dem Holztisch. Und so merkt er auch nichts von dem harten Schlag, der plötzlich die Mauer zerreißt und Ziegel und Splitter durch den Raum wirbelt. Er merkt auch nicht, wie Kalk und Mörtel ihn zudecken, hört nicht die grellen Schmerzensschreie der Verletzten und sieht nicht, wie der Arzt stöhnend zusammenbricht. Als er wieder zu sich kommt, liegt er irgendwo auf dem Gang. Anstatt von der Kugel, die ihm im Knochen steckt, befreit zu sein, hat er einiges dazubekommen: Ein großer Granatsplitter hat ihm die Hüfte zerrissen, einige kleinere stecken im Gesicht und in den Armen. Er gehört nicht mehr zu den ›Aussichtsreichen‹, um die es überhaupt schlecht bestellt ist. Denn dem Chirurgen hat es beide Hände abgerissen.«

Man sollte während der Lektüre jemand haben, mit dem man zeitnah über das Gelesene reden kann. Es nimmt mit. Und öffnet die Augen. Etwa dafür, wie bequem dahinlebende Normalbürger zu »Nationalsozialisten« werden und erst aufwachen, wenn es zu spät ist. Alle Wege des Faschismus führen in die Katastrophe. Man kann das seit langem vorher wissen. Ein deutsches Stalingrad-Denkmal, doppelt so hoch wie das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, müsste daran erinnern. Es wäre im Sinn Heinrich Gerlachs. Gleich nach der Schlacht lässt er am Ende des Buches zwei hohe Generäle mit Hitler speisen. Gerade ist die erste Post kriegsgefangener Stalingrad-Kämpfer in Deutschland angekommen. Die Generäle halten es für eine gute Sache, sie den Angehörigen auszuhändigen. Anders ihr Dienstherr: »Hitler sah auf mit einem Blick, der die beiden Offiziere verstummen ließ. Und er antwortete: ›Die Kämpfer von Stalingrad haben tot zu sein!‹«

*) leider taucht dort auf S. 610 der Name von Rudolf Herrnstadts einstiger Gefährtin im Widerstand, der klugen, kompromisslosen und schönen, 1942 in Plötzensee hingerichteten Antifaschistin Ilse Stöbe, falsch geschrieben auf.       

Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani Verlag 2016

REZENSIONEN