Alfred Brendel und Peter Gülke tauschen sich aus.

Wenn zwei Berufene sich zusammen auf eine Bühne setzen und vor Publikum miteinander über Themen wie die Interpretation von Musik und zwei ihrer größten Komponisten reden, darf eins sich freuen, wenn die Gespräche – sie gehen pandemiehalber am Ende in einen Briefwechsel über – jetzt als Buch vorliegen: „Die Kunst des Interpretierens. Gespräche über Beethoven und Schubert“.

Alfred Brendel, am 5. Januar diesen Jahres 90 geworden, bis zu seinem Rückzug ins Privatleben weltweit gefeierter Pianist, sowie Peter Gülke, 86, erfolgreicher Dirigent, zugleich der philosophisch inspirierte Dichter unter den Musikwissenschaftlern, trafen sich, von der Schubertiade eingeladen, mehrmals in Schwarzenberg und sprachen miteinander.

Brendel (AB) macht mit einem Vortrag über Schuberts letzte drei Sonaten den Anfang. Das musste wohl schon aus Gründen ausgewogener Relationen so sein. Denn zusätzlich zu beider hauptberuflicher Tätigkeit als ausübende Musiker ist Gülke (PG) auch im Nachdenken, Schreiben und Reden über Musik im Hauptberuf tätig, seine Beiträge sind darum umfänglicher; Brendel publiziert seit seinem Abschied von der Bühne nicht mehr so ganz nebenberuflich, mit allerdings beachtlich anhaltender Resonanz.

Die Kapitelüberschriften am Beginn verleiten zu dem Irrtum, da würden Komplexe wie der Lied- und der Opernkomponist Schubert, Musik und Humor, Wiederholungen, Goethe und das Lied oder Schuberts Opposition gegen Beethoven, Punkt für Punkt bündig abgehandelt. Aber die Protagonisten bewegen sich so frei flottierend durch die Themenfelder, dass die Überschriften sich als Zwischentitel erweisen. Einiges taucht wiederholt auf. Beim Thema Liedinterpretation steuert AB in einem seiner Briefe aus London in der letzten Runde zu diesem Gegenstand sogar eine längere Liste von „Ratschlägen für Lied-Pianisten“ bei; die Frage, auf die er dabei kommt – warum gibt es „eigentlich kaum Lied-Pianistinnen“? – überrascht durch ihre Berechtigung.

Alfred Brendel

Mithilfe Schumanns vielzitierter Mäkelei an den „himmlischen Längen“ in Schuberts Kompositionen kommt AB auf einen in Schuberts Musik zentralen Punkt: Die selbst im Vergleich mit Beethoven oft extreme Dauer der Sätze seiner Sinfonien, Sonaten, seiner Kammermusik. Sie ist, per Uhr erfassbar, objektiv vorhanden. Aber schon das von vielen Zuhörenden bis heute beklagte Fehlen der gewohnten diskursiven Verläufe der Musik, die endlos erscheinenden Wiederholungen des gefühlt immer Gleichen, strapazieren die Aufmerksamkeit, lassen das Stück subjektiv länger erscheinen; Schubert verlangt offensichtlich nach einem anderen Hören, eines, das der Andersartigkeit solcher Musik gerecht wird und am Ende mit Glück vielleicht sogar in ihren Bann gerät. AB kennt Gegenbeispiele: in den „Moments musicaux“ oder der a-Moll Sonate D 784 kann Schubert „beispielhaft knapp sein“, sagt er und resümiert – „Schubert braucht Raum, um sich frei und sinnvoll bewegen zu können.“

Wozu das? Bei einem der Treffen hörte man sich auf der Bühne in Schwarzenberg gemeinsam die Aufnahmen des von drei Pianisten – Brendel dabei – vorgetragenen Beginns von Schuberts B-Dur Sonate an. Eine Musik, die nicht – wie dagegen meist bei Beethoven – zwei, sondern drei Themen hat und diese in einer Weise behandelt, für die das im wienerklassischen Sonatenhauptsatz gebräuchliche Wort „Durchführung“ eher unbrauchbar ist; Schubert geht mit seinen Themen deutlich anders um als die Wiener Klassiker. Ihn interessieren weniger die horizontalen Linien der Stimmen, ihre sich samt Tonartenmodulation in verwickelter Progression logisch auf ein Ziel hinbewegende Gedankendynamik – er sucht das freie Feld, den licht- und dämmerdurchfluteten Welten- und Himmelsraum von Melodien überspannter Harmonik. „Klassische Formen“, sagt AB, „stecken Grenzen ab. Der Raum, in dem Schubert sich bewegt, hat mit solchen Eingrenzungen nur mehr wenig zu tun. Mozarts Form ist ein ständiger Nachweis scheinbar zwang- und absichtsloser Vollendung. Bei Beethoven ist Form der Triumph der Ordnung über das Chaos, ein Triumph auch der Übereinstimmung mit dem, was ‚ausgedrückt‘ werden soll“. Schuberts Form aber ist „ein zu wahrendes Dekorum, ein ‚Flor der Ordnung‘ – wenn ich mein Lieblingswort von Novalis verwenden darf –, durch den das schönste Chaos schimmert, das man sich vorstellen kann.“  

Harmonien – in der Notenschrift sind sie die Vertikale – und Themen – sie sind die Horizontale – waren für Schubert, so PG, etwas fundamental anderes, als sie es für Haydn, Mozart und Beethoven waren: „Für Schubert und nicht nur für ihn, sind harmonische Räume Lebensräume, Themen bzw. Motive sind Lebewesen.“ AB fällt zum damit hergestellten Naturbezug – alles immer noch zum Thema: Schuberts Umgang mit dem Großvorbild Wiener Klassik – die moderne Naturwissenschaft ein. Für nicht wenige Naturwissenschaftler existiert Natur nicht nach einem geordneten Plan, strikt organisiert wie von einem Weltingenieur, sondern eher, „wie der Zellengenetiker Francois Jacob“ schreibt, „gesteuert, von einer Art ‘Bastler‘, der mit vorhandenen Komponenten operiert, so gut es geht.“ Schubert, folgert AB, könnte also in etwa so komponiert haben: „Er hält sich an das vorhandene Grundmaterial, das ihm meist schon der Beginn der Komposition in die Hand gibt, er ordnet, arrangiert, variiert, entwickelt oder kommentiert mithilfe von Spiel- und Arbeitshypothesen, die einen kleinen, aber wichtigen Freiraum offenlassen für die Würze des Zufalls, der Laune, des Laisser-faire.“

So lässt sich aus den Gesprächen ABs und PGs – allein im Erwägen dessen, was Schubert verglichen mit Beethoven nicht hatte und umgekehrt – viel über beide Komponisten erfahren. Gleichwohl ist Schubert, dieser unscheinbare Mensch mit dem Kraushaar und den kleinen runden Brillengläsern auf der Knollennase, der eigentliche Held dieses Buchs. Eins erfährt viel über seine drei letzten Sonaten, besonders über deren letzte in B-Dur. Im Hinblick auf Beethoven liegen Peter Gülke, Autor eines schwierig großartigen Standardwerks über Schubert, vorab zwei von dessen Spät- und Hauptwerke am Herzen, die große C-Dur Sinfonie und die As-Dur Messe aus dem letzten Lebensjahr; in ihnen stellt sich Schubert – voller Ehrfurcht und zugleich voller Ichstärke – der Größe seines Abgotts.

Zu betont diskret ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten kommt es bei Fragen wie der des Verhältnisses von „Leben und Werk“ – welche Verbindungen, wenn überhaupt, bestehen zwischen den Kompositionen und den persönlichen und historischen Umständen, in denen ihr Autor lebt? Für AB existieren zwischen Werk und Autor keine Schnittmengen, beide sind weder „kongruent noch kompatibel“, es handelt sich für ihn geradezu um „verschiedene Kategorien“. Man fragt sich an Stellen wie diesen, inwieweit die Positionen beider Gesprächspartner auch davon geprägt sind, dass der eine Schule und Hochschule in der Nachkriegszeit in Graz und Wien absolvierte, der andere in Weimar und Leipzig. Denn beim Thema „Werk versus Biografie“ kennt PG keine Unvereinbarkeiten. Ausweislich nicht zuletzt eines wunderschönen Hegel-Zitats auf Seite 142 erweist er sich als Dialektiker.

Den Beschreibern und Deutern keiner anderen Kunstgattung fällt es so schwer wie denen der Musik, sich ihrem Gegenstand und seiner „durch ihre ‘weltferne‘ Materialität begünstigte(n) Autonomie“ mit Hilfe des Worts zu nähern, so PG; keine ist dabei so sehr auf ein für Außenstehende weithin kryptisches „Fachchinesisch“ verwiesen. Mit dem Dichter Paul Valérie erinnert PG daran, dass dem veröffentlichten Werk „das Vorläufige und Nicht-Wiederholbare (…), das Augenblickliche und die Mischung von rein und unrein, Ordnung und Unordnung“ fehle. Insoweit sei die dem Urheber durch Veröffentlichung unerreichbar gewordene Arbeit – „das Werk“ – nach Valéry eine „Verfälschung“. Indes treiben in der Momenthaftigkeit einer Musik, in ihrem Schweben zwischen Ordnung und Chaos Urheber und Interpret ihr Wesen. „Die Person des Autors ist das Werk seiner Werke“, spitzt PG per Zitat aus den „Cahiers“ von Paul Celan diese Gedanken zu und fügt ihnen schelmisch ein launig aufgeklärtes Bonmot aus dem 18. Jahrhundert hinzu: „Jean Philippe Rameau sei so ausschließlich Musiker gewesen, dass, wenn er das Klavier zugeklappt habe, keiner mehr im Raum gewesen sei.“

Peter Gülke

Auch die mitunter komplizierte Dialektik von Kopf und Herz, von analytischem und empathischen Hören, ist Gegenstand der Erörterung. „Es macht Spaß“, sagt PG – und bricht dergestalt „eine Lanze für den ‚Musicus doctus‘! – über die Stücke, ihre Struktur und um sie herum Einiges zu wissen, es hilft auch dem emotionalen Verhältnis zu ihnen (…) Ich analysiere Musik doch nur, um sie noch schöner finden zu können, als ich sie sowieso schon finde.“ In der ausführlichen Diskussion des, neben der Großen Fuge op. 133, grundstürzenden Beethoven-Werks, der Hammerklaviersonate op. 106,  verbindet PG die normative Beschreibung seiner Arbeitsweise mit einer charmanten Verbeugung vor dem Pianisten: „Wie immer ich mich anstrenge, alle zu Gebote stehenden Instanzen des Begreifens bemühe, mich einzufühlen, zu analysieren und beides zusammenzubringen versuche – ich hole Sie nicht ein, der Beethoven op. 106 hundertmal oder noch öfter gespielt hat, beim Lesen der Noten virtuell in die Tasten greift, jeden Griff nachempfindet.“ Subjektive, nein besser: persönliche Einblicke in die unmittelbare Befindlichkeit und Empfindlichkeit dessen, der interpretierend in die Tasten greift und sich angesichts eines so oder anders gestimmten Publikums in diesem oder jenem Saal zu dieser oder einer früheren Zeit so oder so fühlt, gibt Alfred Brendel nun aber leider nicht.

Bei Beethovens Opus 106 kommen die Herren auf keinen gemeinsamen Nenner. Für PG in Weimar ist dieses Werk in seinen schroffen Klüften „ein Ungetüm von Sonate“; hätte Schubert sie hören können, mutmaßt PG, er wäre schockiert gewesen, er hätte womöglich Beethoven für jemanden gehalten, der sich in diesem Opus 106 „verstiegen habe“. Der andere, AB in London, nimmt solche Auslassungen „mit Vergnügen, wenn auch mit leichtem Entsetzen“ zur Kenntnis. Für ihn war Opus 106 weder technisch noch ästhetisch je ein Problem. Ihm gilt es als „Riesenwerk“, als „umfassendes Musikstück, nicht als halb Seelenmarter, halb Bravourstück, dessen Außensätze man mit zusammengebissenen Zähnen ins Publikum schleudert.“

Die beiden Außensätze, besonders der hintere, die berühmte Fuge, provozieren denn auch eine besondere Reibung zwischen den Diskutanten. „Ich habe deren zu Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht“, sagte Beethoven über die Fuge im Allgemeinen, „aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten und heut‘ zu Tage muss in die alt hergebrachte Form ein anderes, wirklich poetisches Moment kommen“. PG, der wie viele andere offenbar Probleme hat, in dieser Fuge Poesie zu bemerken, hält dem, anfechtbar beethovenkritisch, entgegen: „Auf welche Weise wusste man sich damals ‚weiter‘ als Bach, hat man jenes ‚poetische Moment‘ auch bei ihm vermisst? Wie defizitär erscheint eine Form, der auf diese Weise aufgeholfen werden muss?“ Und AB nach einer feinen kleinen – freilich eindeutig vom modernen Konzertflügel her gedachten – Abhandlung zum Thema „Klavierklang“ antwortet aus London mit einem Bekenntnis: „Die harmonischen Vorgänge, die man immer noch hören sollte, die thematischen und motivischen Zusammenhänge, die tonale Konstruktion des ganzen Werkes (B-Dur: Tonart des Lichts, h-Moll: Beethovens „schwarze Tonart“ – Licht und Finsternis, Gut und Böse) – Opus 106 ist doch in den Außensätzen ein helles Stück, und das Fugenthema wie auch das Anfangsthema im ersten Satz mit seinen Dezimen und Terzen vermitteln mir nicht Krampf und Zwang, sondern Enthusiasmus.“ So wirkt der subjektive Faktor noch in den Seelen zweier, zu, praktisch wie theoretisch gegründet, höchster Objektivation fähiger Künstler.

Wenn AB uns den persönlichen Blick ins Tastenspielerhandwerk auch nicht gönnen will – aus dem pianistischen Nähkästchen plaudert er gelegentlich schon, wenn es sich ergibt. So vergleicht er Schuberts und Beethovens Art der Niederschrift: Schuberts Notation „war noch weitgehend altmodisch (…). Auf der anderen Seite ist seine Dynamik in ihrem Umfang utopisch. (…) Im Gegensatz dazu ist Beethovens Notation „modern und pragmatisch“. Allerdings „gibt es ein Paar schwer erklärbare Ausnahmen, Stellen, die, wörtlich genommen, unspielbar sind: im ersten Satz des C-Dur Konzerts die hinabstürzenden Tonleiter in Oktaven unmittelbar vor der Reprise oder der unmögliche Fingersatz im ersten Satz der Sonate op. 2 Nr. 2. Es scheint, als hielte der Schöpfer der Eroica uns hier zum Besten.“ Hammerflügel-Spieler, das ergab mein Anruf bei einem befreundeten Spezialisten für das Spiel auf alten Instrumenten, melden da Widerspruch an.  Aber hinsichtlich der alten Instrumente lässt sich AB auf Debatten nicht ein; zu Offenheit oder gar Verständnis für die Hammerflügel und Pianoforte, auf denen Beethoven und Schubert selbst ihre Musik erdachten und spielten, mag er sich nicht durchringen.

Die „exemplifizierende Musik“ – so nennt PG, wenn ich es richtig verstehe, die Eigenschaft der Musik, Mitteilung zu sein, Botschaften, Bilder zu übermitteln und Assoziationen zu wecken – jene „exemplifizierende Musik“ sei „mit der Wahrnehmung von Inhalten noch längst nicht am Ende (…), die das ‚denotierende‘ Wort dank hartherzig konturierter Begrifflichkeit längst erledigt hat“. Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie er selbst so ewig ungenügende wie bezaubernde Lösungen für das Problem findet, Musik in Worte zu fassen, gibt PG mit einem großen Mitweimarer, dem Herrn von Goethe: Im von Schubert vertonten Gedicht Suleika I aus dem West-östlichen Diwan geht Suleika der Mund über, wenn sie vom Geliebten spricht, „die doppelstrophige Ordnung – zwei Textstrophen in einer musikalischen – wird verlassen, mit der Nennung des ‚Vielgeliebten‘ erreicht die Musik in einer emphatischen Kadenz die Tonart Fis-Dur, sie wird sie in 44 verbleibenden Takten nicht mehr aufgeben. Suleika redet sich (…) in die Einsamkeit derer hinein, die mit ihrer Liebe allein sein wird, sie redet, wenn auch von ihm, nur noch mit sich selbst, rettet ins zugleich sich zurücknehmende Singen, was verloren gehen wird, und versinkt in ihm, verdeutlicht in zunehmend tiefen Lagen. Welch vorausahnende Hellsicht angesichts dessen, was lebensgeschichtlich zugrunde lag – die poetisch-erotische Begegnung Goethes mit Marianne von Willemer, von der das Gedicht stammt; hiervon konnte Schubert nichts wissen.“

Ein Verzeichnis der meist verstreut erwähnten und mit klugen Gedanken, teils mit Analysen und Anekdotischem  bedachten Musikwerke im Anhang, wäre ein Gewinn für das Buch gewesen; es ließen sich darin – auch wenn es eher kurz ausfiele – vor dem Anhören erwähnte Werke nachschlagen

Trotz der Menge an Kostproben: Ich habe nicht zu viel verraten, nur einen Bruchteil aus der Fülle eines anregenden Gedankenaustauschs in Buchform. Ein letzter Ausschnitt mit einer launigen Pointe: PG stellt die Frage, was denn wohl gewesen wäre, hätte der 1797 geborene Schubert länger als 31 Jahre gelebt? und antwortet selbst: „Er hätte bloß 75 Jahre alt werden müssen, um ‚Tristan‘ zu erleben. Wer weiß, ob Wagner den Tristan dann so komponiert hätte, Schumann seine Sinfonien, Brahms seine frühe Kammermusik! Schubert war nur wenige Tage älter als Kaiser Wilhelm I., der bis 1888 regiert hat. Wie sehr immer Spekulation, was die Entwicklung des Komponierens angeht: Eine Überlegung ist’s wert, schon, um (…) zu ermessen, was für eine Katastrophe dieser frühe Tod für die Musik gewesen ist, am ehesten vergleichbar den Toden von Purcell und Mozart. Sie, Herr Brendel haben mal gesagt, sie seien wütend ob dieses frühen Todes.“ – AB: „Oh ja, es gibt Dinge, die ich nicht verzeihen kann.“ Junge Welt, Februar 2021

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