Stefan Huth und Jackie Walker
Es war eine Welturaufführung. Aber dass sie nun am Sonntag in Berlin als passender Epilog einer großartigen XXVIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz gerade von der einzigen marxistischen Tageszeitung des Landes zu Wege gebracht wurde, war wohl ein glücklicher Zufall. Denn zur Freiheitlichkeit der Demokratie auch des Vereinigten Königreichs gehört es nun mal, Filmen wie »Oh, Jeremy Corbyn: Die große Lüge« maximal viele Steine in den Weg zu legen, bevor sie, wenn überhaupt, erscheinen dürfen. So war es die junge Welt, die die Dokumentation über den Putsch gegen Jeremy Corbyn als Weltpremiere zeigen konnte, wie Chefredakteur Stefan Huth eingangs berichtete. Dass der Film von Regisseur Christopher »Chris« Reeves am Folgetag der Konferenz über die Leinwand des Kino Babylon und direkt in die Köpfe und Herzen eines aufgeklärten Berliner Publikums gehen konnte, war auch den in Rekordzeit und Nachtarbeit erstellten deutschen Untertiteln Susann Witt-Stahls zu verdanken. Der Saal war prallvoll, ausverkauft.
Ein Film wie ein sanftes Gewitter. Bilder von den begeisternden Auftritten Jeremy Corbyns vor den Massen überwiegend jugendlicher Labour-Anhänger. Der fast lebenslange linke Hinterbänkler hatte mit der Losung »For the Many, Not the Few« (Für die Vielen, nicht die Wenigen) die Sache mit der Demokratie auf den Punkt gebracht. Bilder und Worte von einer Authentizität, von der bürgerliche Politiker nur träumen können. Zum Nachdenken zwischenein besonnene, humorvoll-realistische Kommentare britischer Linker, unter ihnen Kenneth »Ken« Loach, der Vater des Films der britischen Arbeiterklasse.
Eine aus dieser Reihe, die Graswurzelaktivistin Jacqueline »Jackie« Walker, antwortete nach der Filmvorführung live auf Huths Fragen. Sie beschwerte sich lachend, Fragen solcher Art bedürften Stunden der Antwort, aber sie wolle versuchen, sich kurz zu fassen. Die schwarze Engländerin jüdischer Abkunft, langjähriges Mitglied von Jewish Voice for Labour, sprach aus Erfahrung auch über Jeremy Corbyns entscheidenden Fehler im Schlamm-Tsunami, den die freiheitliche Presse, die vereinigte Rechte, mittendrin der Labourpolitiker Keir Starmer, und die City of London, gegen ihn entfachten: Auf dem zurzeit immer noch schwierigsten Terrain propagandistischen Klassenkampfs, dem Antisemitismus, entschuldigte sich Corbyn für seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk. »Wer angegriffen wird«, sagte dazu Jackie Walker mit geradezu revolutionärer Gelassenheit, »darf sich nicht entschuldigen; er muss zurückschlagen«.
Auch an anderer Stelle gab es für die deutsche Linke zu lernen. »Was wäre geschehen«, fragte Huth, »wäre mit Corbyn in einem imperialistischen Hauptland ein NATO-Gegner an die Regierung gekommen?« Walker erläuterte anhand von Zitaten britischer Militärs, dass jenes Gebilde, das sich notorisch »freiheitliche Demokratie« nennt, in dem Moment, da jemand die rote Linie eines Systemwechsels ansteuert, sich seines Demokratiefummels leichterhand entledigt und offen terroristisch mit einem Staatsstreich reagiert.
Ohne den Unterhaltungswert der Veranstaltung bewusst steigern zu wollen, fragte Huth auch nach der Rolle der britischen Tageszeitung The Guardian in dieser Angelegenheit. Man hat im Babylon einen Menschen auf eine Frage wohl selten derart herzhaft lachen sehen. »Nicht die Rassisten und offenen Kolonialisten sind die Schlimmsten«, antwortete Walker, »bei denen weiß man wenigstens, woran man ist – die Liberalen, die ihren Rassismus und Kolonialismus hinter kostenfreien Wortwolken verbergen, sind die Schlimmsten«. Was Jeremy Corbyn anginge: Er sei kein Revolutionär und kein Marxist – aber ein Mensch, der ohne Wenn und Aber konsequent gegen den Krieg einstehe. Das allein sei unschätzbar viel.
Unerfreulich und von Jackie Walker im nachhinein als Symptom der gegenwärtigen Schwäche der Linken gedeutet: dass jemand sich das Saalmikrofon reichen ließ, um statt einer Frage versuchsweise das an diesem Nachmittag nicht gefragte Thema Covid in den Mittelpunkt zu rücken. Was ist eigentlich an »Disziplin« so übel, möchte man da in die Richtung fragen, wo einmal die Linke war.
In Antwort auf Susann Witt-Stahls letzte Frage, was wir in der BRD aus dem vorläufigen Scheitern Jeremy Corbyns und seiner Ideen lernen könnten und was uns zu tun bleibe in der Situation, in der wir selbst sind, erinnerte Walker daran, dass wir am Ende keine andere Wahl hätten, als bei der Wahrheit zu bleiben. Der Zeitpunkt, da sie wieder verfängt, könnte nicht gar so fern sein. Bei der Wahrheit bleiben, wenn ich Jackie Walkers weiches Englisch richtig verstanden habe, mit Geduld und leise, wenn’s geht – das war ein gutes Schlusswort am Ende eines Nachmittags voller wichtiger Eindrücke. junge Welt, Januar 2023