Wasserschaden.

Es kann passieren, dass, während eins badet, das Wasser aus der Wanne läuft, aber niemand hat den Gummistöpsel im Abfluss berührt. Nur das Telefon klingelt irgendwann, und die Freundin ein Stockwerk tiefer fragt freundlich zögernd, ob bei uns alles in Ordnung ist, von meiner Zimmerdecke tropft‘s. Ich erzähle das, weil ich unlängst über das Phänomen Zeit nachdachte mit der Aussicht, vielleicht etwas darüber zu schreiben. Ich wollte im Josephs-Roman Thomas Manns nachsehen, in dessen Einleitung es nach meiner Erinnerung um die Zeit geht. Mein einstiges Scheitern an dieser Einleitung hatte dafür gesorgt, dass ich Manns längsten Roman – von dem ich mir habe sagen lassen, er sei der sinnlichste, ja erotischste dieses ansonsten doch eher gedankenreichen Autors – bis heute nicht zu Ende gelesen habe. Aber infolge des erwähnten Wasserschadens und einer sich hinziehenden Sanierung großer Teile unserer Wohnung waren die beiden Bände „Joseph und seine Brüder“ in einem der vielen Kartons verschwunden, die sich in den zwei unbeschädigt gebliebenen Zimmern stapelten. Ich hatte scheiternd lediglich in Erinnerung behalten, dass die Einleitung sich auf ungemein belesene Weise mit dem tiefen Brunnen der Zeit befasst. Einleitung wie Zeit haben etwas gemeinsam: sie ziehen sich.

Eine meiner diesbezüglich extremsten Erfahrungen geht auf meine Zeit bei der Bundeswehr zurück. Ich stand Wache am Tor der Kaserne. Alles muss seine Ordnung haben beim Militär. Das hatte in diesem Moment, da ich dort in einer bitterkalten Winternacht des Jahres 1966 stand, zum Beispiel zur Folge, dass der Karabiner, den ich über der Schulter zu tragen hatte, mit der Zeit zur Qual wurde. Denn er war auf der rechten Seite zu tragen. Ich durfte ihn, als sein nicht unerhebliches Gewicht in Gestalt des Lederriemens, mittels dessen er zu tragen war, in immer unangenehmerer Weise für ein immer bohrenderes Schmerzempfinden in meiner Schulter sorgte, nicht über die andere hängen. Und der Karabiner war nicht das einzige. Weder der dicke graue Wintermantel, unter dessen grauer Uniformjacke ich gegen die Vorschrift zwei wollene Pullover trug, noch die doppelten langen Unterhosen unter der Uniformhose, auch die zwei Paar Wollsocken  in meinen schwarzen, blankgeputzten Soldatenstiefeln und schon gar nicht die lächerlichen Fingerhandschuhe an meinen armen Händen vermochten der Kälte zu trotzen. Sie drang durch und durch. Bewegung hätte geholfen. Ein Wachsoldat am Tor aber hat zu stehen. Und was sich als die schlimmste, die schon einfach wirklich höllische Tantalusfolter herausstellte: über meinem Kopf hing, meinen Gesichtskreis fast füllend, die kaltweiße Scheibe einer großen Uhr, wie sie sonst nur auf Bahnhöfen hängt. Über ihre schwarzen Minutenstriche ging schwarz, in mechanisch regelmäßig voran ruckendem Takt, der Sekundenzeiger. Einmal in den zwei Stunden, die ich zu stehen hatte, nahm er, einen Takt auslassend, den Stundenzeiger mit, sechzig Mal den Minutenzeiger, mehr Abwechslung war nicht. Natürlich versucht man sich zu zwingen, die Uhr zu vergessen. Man schaut hinüber zum gelben Backsteinturm des schönen Doms aus der Gotik, der sich jenseits der Kasernenmauer über die Dächer der Altstadt erhebt. Man dreht sich ein wenig, das geht in der Nacht, wenn kein OvW unterwegs ist, kein Offizier von der Wache, man blickt die leere Kasernenstraße entlang; hinter den dunklen Fenstern in den Blöcken links und rechts schlafen warm und weich jene anderen, die für einige Zeit die Kameraden heißen. Aber dann schaut man doch wieder auf diese stoische, Sekunde um Sekunde abhakende Mechanik des schmucklos schwarzen Zeigers im kaltweißen Kreis. Siebentausendzweihundertmal bewegt er sich in zwei Stunden.

Mit allen Fasern meines kältestarren Körpers spürte ich die Ewigkeit jeder einzelnen Sekunde, die sich da über meinem leeren Kopf in dröhnender Langsamkeit an die nächste reihte. Eine Ewigkeit ist etwas Abstraktes, wir Endlichen kennen sie nicht wirklich.  Auf Wache am Tor in bitterkalten Winternächten wird im wie gebannten Blick aufs Zifferblatt der Uhr die Ewigkeit fasslich, wie unendlich lang kann eine Sekunde sein? Meine Augen schweifen ziellos und finden keinen Inhalt. Nach gefühlten zehn frostigen Minuten kehren sie zurück. Der Minutenzeiger, seit ich ihn verließ, hat gerade einmal zwei schwarze Striche hinter sich.

Der bleiche runde Mond, den ich neben dem Domturm sehe, gibt mit seiner Trabantenrunde um den Globus den Menschen seit Urzeiten überall auf der Welt ein Zeitmaß, eine nahezu objektive, sich noch im Zyklus der Frauen wiederfindende Größe. Eins kann den Stand dieser Größe am wolkenleeren Sternenhimmel in vielen Nächten während der vier Wochen, die der Mond braucht, bis er wieder dort ist, wo er begann, an der Gestalt ablesen, die der Schatten der Erde oder der Stand der unsichtbaren Sonne jener mythologischen Kugel gibt in den Nächten ohne Vollmond. Aber wie in jeder erdenklichen Hinsicht weit weg von den im Bewusstsein vieler Menschenalter zu Symbolen gewordenen Gestalten des guten alten Monds als eines Anhaltspunkts für den Stand der Zeit – ist eine Sekunde?

In der Hast, dem Atem beraubenden Tempo der Gegenwart taucht die Sekunde vielleicht noch auf, wenn Menschen, ungeduldig auf etwas wartend, der Zahlenbewegung ihrer Digitaluhren folgen. Im Leistungssport wird die Tausendstelsekunde zum virtuellen, nur noch von elektronischen Apparaturen herstellbaren Nonsense. Wie wundervoll poetisch tickt da das Wort „Uhrwerk“ aus Jahrhunderten herüber. Im dritten Jahrtausend sind es keine „Uhren“ mehr, die uns das Phänomen, das wir die Zeit nennen, anzeigen. An den modelhaft makellosen Handgelenken der Manager globalen Erfolgs prangen stattdessen platinfeiste „Chronometer“.

Wer noch Sinn dafür hat, wer an günstigen Orten steht und gut genug hört, um durch den Ohren betäubenden Lärm des modernen Individualverkehrs zu dringen, kann in den Städten, den Orten und Dörfern, in denen Kirchtürme stehen, noch Glocken hören, welche mit vieren ihrer Schläge die Stunden markieren und sie – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier – in Viertelstunden stückeln. Als die unendlich zuverlässige Folge von Viertelstunden für sie noch die Zeit war, kannten die Menschen die Sekunde nicht, sie hatten keine Verwendung dafür.

Die Zeit war öffentlich, zugänglich selbst noch allen, die das Augenlicht entbehren müssen. Noch in den 1980er Jahren gab es – auf jeder Verkehrsinsel oder in den Straßen, hängend über den Türen vieler Läden und inmitten vieler Marktplätze – große, gut sichtbare Uhren, die Städte waren voll davon. Heute sucht der Mensch selbst auf den Bahnhöfen, wo einst doch auf jedem Bahnsteig, je nach Länge, mindestens zwei Uhren hingen, lange vergebens danach. Die hierzulande übliche Sorte Marktwirtschaft hasst Gemeinsamkeit. Auch die Zeit gehört für sie privatisiert, sie gehört, wie alles andere, der Verwertbarkeit vorgeworfen. Wer wissen will, wie spät es ist, greife nach seinem und ihrem Handy. Auch die Zeit – prepaid oder per Abo – muss käuflich sein.

Wie lange ein Menschenleben gedauert hat, das der fernen Vergangenheit angehört und mithin – sei es das Leben eines Kutschers, einer Magd, eines Tagelöhners – als Teil der Geschichte nun in seiner Dauer in irgendeinem alten Gemeinderegister in Klammern hinterm Namen steht, wie lang dieses Menschenleben gedauert hat, vermag eins so richtig zu ermessen erst – wenn es die Jahreszahl aus dem fernen Jahrhundert einmal spielerisch ins Jahrhundert seiner Gegenwart verlegt. Es wäre dann beispielsweise Goethe von 1949 bis 2032 unter uns, Beethoven von 1970 bis 2027, der dreißigjährige Krieg hätte von 1918 bis 1948 durch Europa gewütet. Auf so etwas ist selbst Thomas Mann nicht gekommen, er wäre nebenbei 1975 in Lübeck geboren worden und erst 2053 in der Schweiz verstorben.

In „Wilde Erdbeeren“ des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann, einem Lieblingsfilm, hat der alte, dank seiner Schwiegertochter am Ende seines Lebens die Härte seines Herzens erkennende und überwindende Professor Borg in einem Albtraum die Vision einer, in einer menschenleeren Straße hängenden Uhr mit leerem Zifferblatt. Auf seinem Gesicht im Moment des Erkennens ein fahles Grauen. Wäre ein Leben ohne Zeit ein Alb? Oder war, was den Professor erschreckte, nur die Allegorie seiner abgelaufenen Zeit?

Wenn etwas Hoffnungsvolles im Begriff steht, sich zu erfüllen oder: wenn etwas zu Ende geht, heißt es, seine Zeit sei gekommen. Als sei die Zeit in all den vielen langen Jahre, da sie nicht kam, abwesend gewesen. Wahrscheinlich will die schöne alte Wendung auf den Umstand hinaus, dass die Menschen, solang sie jung sind, die Zeit, als eine Kette aktuell ablaufender Dauern ihres Lebens, rundweg nicht interessiert, es gibt einfach zu viel davon. Verglichen mit dem Eindruck des Alters, dem die Zeit, je älter eins wird, desto schneller davoneilt, schleppt die Zeit sich im Bewusstsein der Jugend manchmal geradezu hin, damals auf Wache hätte ich sie zum Mond schießen mögen.

Ein wie ungemein relatives Ding die Zeit ist, wird jedem Menschenkind schnell klar, das sich die Zeit nimmt, auf Youtube Motetten & Chansons von Josquin Desprez herauszusuchen und sie sich mit Hilfe guter Außenlautsprecher auch anzuhören. Ein Sprung zurück durch sechs Jahrhunderte in eine ferne Welt. Musik der zentralen Renaissance, Josquin wurde irgendwann zwischen 1450 und 1465 geboren. Mittel- und Südeuropa lebten damals für eine Weile im Frieden. Josquin war Franco-Flame zu einer Zeit, da in Italien Fra Filippo, Leonardo, Raffael wirkten.

Eine kulturell glanzvolle, aber auch sehr andere Zeit nicht nur, was die äußere Gestalt angeht. Auch die andere Energie, eine der Sorte, die sich noch nicht ums Immerschneller, Immerstärker schert, die in den Motetten stattdessen ihre Dynamik in einem Innewerden findet, das in den Chansons einen oft schon frivol körperlichen Rhythmus hat. Motetten und Chansons, geistlich und weltlich, wechseln sich ab. Besonders nach der langen Eröffnungsmotette ist es, als bräche im Chanson das Volk ein in „der Kirchen altehrwürdige Nacht“ (Goethe), es lässt sie als heiligen Spuk erscheinen. Welch‘ wunderbarer Spuk aber! Heinrich Besseler hat es als „Klangstrom“ gerühmt, was da so vokalweich und wie allmächtig durch die Zeit geht, was auseinanderfließt, sich in immer neuen harmonischen Konstellationen verzweigt, in immer neuen, oft schrägen Akkorden immer wieder zusammenfindet.

Fra Filippo

Der Rhythmus in den Motetten ist noch hörbar durchwirkt vom schweren, zugleich ruhigen, freien und weiten Atem einstimmiger Gregorianik. Die Entfesselung der Renaissance brachte der Musik mit der Mehrstimmigkeit die Notwendigkeit von Koordination der Einzelstimmen. Der Rhythmus, der vorher gänzlich frei war, wollte geregelt sein, eine andere, eine kollektive Einteilung der Zeit musste her, der Tanz bot reichlich Modelle. In den Motetten ein Wiegen und Weben in weiträumig untergründigen Vierer- und Dreiertakten, springt der Rhythmus in den Chansons quasi vom Himmel auf die Erden.

Wer solche Motetten komponiert und so singt, hat in sich ein, verglichen mit heute, fundamental anderes Zeitgefühl. Es fällt enorm schwer, sich zu Beginn des dritten Jahrtausends auf dieses Gefühl als auf einen, von dem unseren grundverschiedenen Kosmos der Zeit zu besinnen. Glückt es, besteht der Lohn im Entkommen. Kältestarre, Stress und Angst fallen ab. Eins taucht ein in eine Trostwelt der Ruhe. Die da Motetten singen, klingen wie weibliche und männliche Engel als Sinnbilder und Verkünder einer großen Idee, die seit dem Mittelalter das Dasein verklärte. Der Klang dieser Verklärung tut gut. Eins hört auf betörende Art, wie gut sie schon damals die Inbrunst kannten, mit der eins eine bessere Welt ersehnt.

Die Zeit scheint sich aufzulösen in diesen Motetten in Klang und Rhythmus, wobei der Rhythmus auf eine magisch energiegeladene Weise oft wie durchsichtig wirkt. Die Chansonwelt dagegen, vielleicht noch auf den Pariser Spuren Perotins aus dem 12. Jahrhundert, erinnert in Desprez‘ Chansons für fröhliche Momente an einen – für moderne Ohren allerdings durchs Renaissance-Idiom wie avantgardistisch verfremdet wirkenden – Rossini.  Auch die Lebensfreude vor sechshundert Jahren, vergleicht man sie dem zeitgenössischen Spaß-Faktor, klingt in der Musik der Renaissance-Zeit zum Wundern unverbraucht, unschuldig maßvoll.

So bewirkt die Zeit mit der unendlich langsamen Zerstörungskraft von gut 10,5 Millionen Sekunden, in denen sie per Rost gefressen hat an einer vor zwanzig Jahren topfitten Badewanne, einen Wasserschaden; sie dehnt sich, die Zeit, am Beispiel einer einzigen bitterkalten Wintersekunde mitunter ins Unerträgliche, wenn die Lebensumstände unerträglich sind. Und sie zieht sich mitunter zusammen in der auch zeitlichen Weiträumigkeit alter Gesänge, sie löst sich in pures Hören auf, in ein In-der-Musik-Sein. So macht sie Platz für den Raum, der sich auftut, wenn eins sich, unterbrochen von gelegentlichem Zwischendenken, nur noch der Imagination hingibt und allem, was geschieht, wenn die Töne, die Klänge und Zusammenklänge in der Zeit wirken, die ihnen die Musik einräumt und einrichtet. Der Raum, der da entsteht, gleicht dem Raum in Thomas Manns grenzenlos brunnentiefer Geschichte, deren scheinbar ziellos durch den Raum irrende Atome die Sekunden sind.

Ich hätte alte Musik hören sollen in jener klirrend kalten Winternacht am Kasernentor in der Stadt mit dem gelben Dom. Aber natürlich, taschenklein tragbare Abspielgeräte gab es noch nicht, die Kopfhörer hätte ich nie im Leben unterm Stahlhelm untergebracht. Ich kannte solche Musik ja noch nicht einmal. Und außerdem – Musikhören auf Wache war damals natürlich total verboten. junge Welt, April 2022

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