Langfinger Locatelli.

Wer kennt sich aus: Im 18. Jahrhundert in Italien musizierten und komponierten? Antonio Vivaldi (1678-1741), logisch, Arcangelo Corelli (1653-1713), nicht ganz so klar, vielleicht hat die eine und der andere noch Baldassare Galuppi (1706-1785) ganz hinten im Langzeitgedächtnis. Aber Pietro Antonio Locatelli (1695 – 1764)?

Den für ihn typischen Grenzgang zwischen Concerto grosso und solistischem Concertino erlernte der junge Locatelli im üppigen Mäzenatentum des papistischen Rom. Er wurde europaweit berühmt, man rief ihn nach Kassel, nach Mantua, München, Berlin. Aber irgendwann muss ihm die Hofluft sauer geworden sein. Ab 1729 kam ihm das Domestikenleben in den Palästen des Adels nicht mehr in die Tüte. Er ging nach Amsterdam und ist in dieser geschäftigen Handelsstadt wohlversorgt gestorben.

In seiner Zeit war er vor allem eine geigerische Sensation, in zweiter Linie erst Komponist von Werken, die er für sich selbst und die Orchester schrieb, in denen er am ersten Pult saß. Isabelle Faust, die Solistin und das Quasi-Locatelli-Double der neuen CD von Il Giardino Armonico sieht ihn im Booklet als „Ausnahme-Virtuosen und zugleich außergewöhnlich ausdrucksstarken und fantasievollen Komponisten“. Sie beschreibt den Italiener als Langfinger. Nicht, dass er geklaut hätte, das hatte er nie nötig. Aber „Locatelli muss eine enorm große Hand respektive sehr lange Finger gehabt haben, anders ist eine solche Akrobatik nicht möglich.“ Ein Zeitgenosse beschrieb, wie „Locatelli, der wohl niemals eine falsche Note spielte, einmal in eine so hohe Lage geriet, dass er mit dem kleinen Finger in den Öffnungen des Stegs stecken blieb!“ Der Finger drückt so weit oben auf die Saite, dass für den Bogen zwischen Finger und Steg kaum noch Platz bleibt, der frei schwingende Teil der Saite ist extrem kurz. Bei den meisten Geigern hört eins da nur noch ein Gepiepse, ein kaum noch vernehmliches, die Tonhöhen kaum noch wiedergebendes Viepern.

Pietro Antonio Locatelli

Nicht so bei Faust. Sie gewinnt selbst den Trillern in dieser Höhe noch Reize ab. Die Intonation bleibt makellos. Man meint für faszinierende Momente Salvatore Sciarrinos Capricen zu hören, so modern und musikalisch-interessant klingt, was da in die Ohren strömt.       Locatellis 24 Capricci stehen denen Paganinis an Höchstschwierigkeit nicht nach. Locatelli hat sie und ihre Wagnisse über seine Violinkonzerte verteilt. Als Teil der ersten und letzten Sätze sind sie in diese Werke eingefügt – verbunden durch notierte überleitende Fermaten-Kadenzen – wie eine Kadenz. Faust in der spektakulären Kuppel der Virtuosität absolviert die geigerischen Salti mortali dieser Musik souverän und glänzend, sie bleibt auf dem Teppich dabei, soll heißen, noch im Höchsttempo macht sie Verläufe deutlich, setzt Akzente und funkelnde Leittöne, ein zirzensisches Hörvergnügen

Man hört an manchen Stellen, mit wie offenem Ohr Locatelli die Produktion seiner frühen Vorbilder und späteren Konkurrenten Vivaldi und Corelli verfolgt hat. Die vom Dirigenten Giovanni Antonini aus einem nicht gar so umfangreichen Locatelli-Oevre herausgesuchten Werke indes weisen ihn als einen nicht nur verteufelt wagemutigen Virtuosen aus. In den sechs (!) Sätzen seines concertino-suitenhaften Wechselbalgs „Il pianto d’Arianna“ geht er – Vivaldi und Corelli an raffinerter werdender Instrumentation, an neuen Stimmungen und Farben und in den langsamen Partien auch an arioser Melodik übertreffend – über beide recht weit hinaus. Man vergisst in dem, von Il Giardino Armonico wie immer impulsgeladen gezündeten Feuerwerk an instrumentaler Vielfalt reineweg, dass da nur Saiteninstrumente am Werk sind.

Dank Isabelle Fausts und des quirligen, mit dem langen Atem gesegneten Antonini ragt diese Aufnahme aus der nicht unerfreulichen Überfülle des Angebots an lebendiger Barockmusik freudestrahlend heraus. junge Welt, September 2023

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