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Ein Hamburger Jung. Gibt’s den noch? Vielleicht in der Tourismus-Werbung. Die Zutaten des Originals sind verschwunden. Die großen Hamburger Werften, die kranbestückten Umschlagkais und Lagerschuppen sind Schiffsreparaturbetrieben gewichen und nüchtern rationellen Containerhäfen. Für deutsche Schiffe – so viel Reeder-Sinn für Ausländer muss sein – ist die Heuer deutscher Seeleute heute viel zu üppig. Der Hamburger Jung war proletarisch, auch seine Klasse hat sich verändert.
Der Dichter Hans Leip, den sich der in Hamburg ansässige Sänger, Klavierspieler, Komponist und Entertainer Johannes Kirchberg zur Titelfigur seiner neuen CD erkoren hat, kamaus dem Proletariat. Vater Leip war Matrose und Schauermann. Sein Sohn Hans (1893-1983) war begabt und strebsam. Er brachte es zum Lehrer und hatte mithin Zeit – wenigstens damals war das noch so –, sich seinem Talent und seinem Drang zum Schreiben zu widmen.
Er war, auf andere Art als der zehn Jahre ältere Joachim Ringelnatz und wieder ganz anders als die bundesrepublikanische Reinkarnation des Hamburger Jung, ein echter Volksheld namens Freddy Quinn, in seinem literarischen Schaffen ein Sänger der kleinbürgerlichen Spielart des Hamburger Jung.
Leip war kein mutiger Mann. Er mogelte sich erfolgreich durch die Nazizeit. Fast. Kirchberg hat das Hauptproblem Leips angepackt: Alle kennen von ihm nur das eine Lied: „Lilli Marleen“. „Alle“, das waren zur Zeit des zweiten Weltkriegs, erstmals in der Geschichte der Schlagerbranche, die rund um den Erdball zur Feindschaft Verdammten, die sich – wie in Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ – beim Hören eines Lieds über alle Hauptkampflinien hinweg verbrüderten.
Leip, eine Art Karl May der Seefahrt, ist nie selbst zur See gefahren. Er bedient die Sehnsucht nach einer für die große Bevölkerungsmehrheit noch in der Zwischenkriegszeit unerschwinglichen Welt hinterm Horizont mit dem Unterschichtsmythos der Ferne, nach der alle Sehnsucht haben und aus welcher der Junge bald wiederkommen soll.
Leip war den Nazischranzen, besonders nach dem Welterfolg „Lilly Marleen“, natürlich willkommen; er ließ sich von Goebbels am goldenen Ring durch die Manege führen und trug mit anderen Künstlerprominenten widerstandslos das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse (ohne Schwerter). Dem Leip, den Kirchberg präsentiert, flossen allerdings Zeilen aus der Feder. wie „Wir verkommen in dem, was wir niemals gemeint“ oder „keiner sieht keinem an, was in ihm sinnt“ (Schnee, der uns bedeckt). Oder der Gedanke: „Es ist der Zeitenmühle Lauf, die mahlt das Große klein“ (An meine Töchter). Der Reichspropagandaminister traute Leip von Anbeginn nicht über den Weg. Irgendwann brachte Goebbels seinen Verdacht auf den Punkt: das, was Leip da verbreitete, war am Ende „Wehrkraftzersetzung“ – eine Auszeichnung. Leip konnte entwischen und untertauchen, er überlebte.
Kirchberg tut, was er kann, diesen grenzgängernden Dichter zu entmythologisieren. Er umschifft den Kitsch, dem die Zeilen des Schauermannsohns gelegentlich bedrohlich nahekommen. Er arbeitet Leips oft etwas naiv getarnte, echte Menschlichkeit heraus, die den Dichtermaler gegen Kriegsende fast noch das Leben gekostet hätte. Kirchberg wagt sogar das Unmögliche: er komponiert eine Neufassung von „Lilly Marleen“.
Auch in diesem ersten globalen Popsong – John Steinbeck hielt ihn für „das schönste Liebeslied, das je geschrieben wurde“ – gibt es eine AfD-untaugliche Zeile: der Soldat vor der Kaserne räumt mit den Worten „und sollte mir ein Leids gescheh’n / wer wird bei der Laterne steh‘n“ immerhin ein, dass Krieg für jene, die in ihn hineinbefohlen werden, Trauma und Tod bedeutet. Kirchberg befreit mit seiner Art Komposition „Lilly Marleen“ von der Festlegung des Ohrs auf Norbert Schultzes volksliedhaft verführerische Schnulze mit ihrem zurückhaltenden Marschrhythmus. Kirchberg gibt mit seiner Art zu singen auch diesem Text mehr Licht als gewohnt. Wer hätte je bemerkt: die Laterne nimmt Lillys „zieren Gang“ wahr; wem ging auf, dass es fürs kriegerische Patriarchat bereits wehrkraftzersetzend ist, wenn ein Soldat beim Abschied der Liebsten sagt, er ginge viel lieber mit ihr, statt ins Schlachthaus.
Leip kam 1948 noch einmal kurz an die Elbe. Dann ging der Hamburger Jung – wie Thomas Mann und manch andere deutsche Gegner des Faschismus – für den Rest seines Lebens in die Schweiz. Johannes Kirchberg und seine Mitstreiter erinnern auf beeindruckende Weise an einen der vielen zu Unrecht Vergessenen.. junge Welt, Oktober 2023