Schumann.Faust-Szenen.Gerhaer.NDR-SO.Hengelbrock.

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Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“ am letzten Donnerstag und Freitag in der Hamburger Laeiszhalle. Volles Haus. Riesenbesetzung. Nicht allein quantitativ – die Bühne randvoll mit Rias Kammerchor, NDR Chor, NDR Sinfonikern und Solisten. Auch qualitativ. Denn an der Spitze eines großartigen Sänger-Casts stand der weltweit derzeit beeindruckendste Schumann-Sänger Christian Gerhaher als Faust.

Ein seltsames Stück. 150 Jahre fast vergessen. Seinem Schöpfer hängt bis heute der Makel an, gegen Ende seines Lebens auch schöpferisch von der finalen Geisteskrankheit beeinträchtigt gewesen zu sein.

Gounod machte eine Oper aus dem Stoff, Berlioz eine dramatische Legende; Wagner und Liszt komponierten eine Ouvertüre, Mahler eine Riesensinfonie. Bei Schumann nichts dergleichen. Seine Faust-Szenen haben von allem etwas. Sie passen in keine Schublade.

Von den exakt 12111 Versen des Welttheaters aus dem Land der Dichter und Denker finden sich in Schumanns Komposition 600 wieder. Dass diese 600 dann auch noch zur Hälfte allein aus der Vertonung der letzten Hälfte des letzten Aktes bestehen, verrät: Schumann ging es nicht um die Handlung. Er war kein Dramatiker wie Mozart, den Goethe als Idealbesetzung für die Komposition seines Faust sah. Bei Mozart wäre Mephisto ein diabolischer Bariton gewesen (bei Wagner ein ätzender Tenor wie Mime). Bei Schumann ist er ein Bass, kein bisschen fies, nur leicht bedrohlich (Albert Dohmen, solide, ein altgedienter Wotan).

Statt Handlung Lieblingsstellen aus Goethes Text. Einige singt in Hamburg, höhensicher und einfühlsam, Christina Landshamer als zunächst unschuldiges, später auf dem Weg in den Wahnsinn zur Heroine mutierendes Gretchen. Gut durchhörbar, glasklar akzentuierend greinen etwa in „Ach neige, Du Schmerzensreiche“ die Celli hinter- und untergründig, es meldet sich mit dem „Dies irae“ erstmals gravierend der Chor. Schumann, das dämmert spätestens hier, instrumentierte höchst einfalls- und abwechslungsreich (schöne Melodien waren nie sein Problem), und die NDR Sinfoniker unter ihrem derzeitigen Chef Hengelbrock bringen das spielfreudig zum Ausdruck.

Nächste Lieblingsstelle: Faust erwacht – „Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder“ – aus heilendem Schlaf. Ariel (ein stimmstarker, farbiger Lothar Odinius) und der Chor, beweglich und detailgenau trotz Riesengröße, lassen die Saat „in schwanken Silberwellen“ der Ernte zu wogen. Dann ein großer Sprung ans Ende. Die „vier grauen Weiber“. Schumann erfasst sie klanglich geisterhaft. Bei Goethes genialer Beschreibung psychischer Depression, der Sorge, fällt auf: Schumann komponiert meist am Text und weniger das, was der Text beschreibt.

Aber die gigantischste High End-Anlage vermag das Erlebnis nicht zu vermitteln: Wie Gerhahers Bariton in den großen Faust-Stellen – sehr anrührend dann auch als Pater Seraphicus und Doctor Marianus – mit buchstäblich sanfter Gewalt die umbaute Konzerthallen-Luft erfüllt. Die Wirkung verdankt sich anderen Paradigmen als Lautstärke und äußerem Glanz; alles an dieser Stimme scheint im besten Sinn „innerlich“. Obwohl er jede Silbe, jeden Endlaut, jede Veränderung von Dynamik oder Farbe präzis und klug kalkuliert, klingt es einfach wie der Inbegriff von Natürlichkeit. Ein Wunder. Ein Glück.

„Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn / auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ – Fausts Schlussmonolog singt Gerhaher nicht, postmodern, als letzte Fieberphantasie eines sterbenden Deppen. Sondern als Utopie und Quintessenz eines in aller negativen Dialektik über den physischen Tod hinausreichenden, dem Streben nach Erkenntnis und Genuss gewidmeten Lebens.

Was danach kommt, die Himmelfahrt von Fausts „Unsterblichem“, hat in Goethes kunstreich verrätselter Mixtur diverser Mythologien Generationen von Leserinnen und Lesern ratlos gelassen. Schumann bietet hier alles auf, große Chöre, Fugen, Arien und Ensembles, er schichtet, webt ineinander, lässt die Musik in großen Wellen, laut und leise, an die Ufer der Herzen schlagen. Und endlich – „Wer immer strebend sich bemüht“ – meint man den letzten Goethe zu verstehen. Auf Augenhöhe ist das mit Beethovens Schlusschor. Junge Welt, November 2015

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