Ein Jahr F. W. Bernstein

Was für eine gute Idee! Seite elf rechts oben, täglich, ein Jahr ein Blatt des großen Zeichners und Dichters F. (wie Fritz) W. (wie Weigle) Bernstein. „Ein Jahr lang“, hatte ich gewohnheitsmäßig hingeschrieben, da merkte ich: Es war überhaupt nicht lang, das Jahr mit Bernstein. Es war täglich – außer an Sonn- und Feiertagen – ein ritueller Spaß, gleich mal, wenn die neue Ausgabe in Händen lag oder die online-Ausgabe im Netz war, auf Seite elf zu blättern oder zu scrollen und zu schauen: Was haben die Kollegen Alexander Reich und Peter Merg zusammen mit Bernsteins Witwe Sabine Weigle aus Bergen von Bernsteins Skizzenbüchern nicht das Beste, sondern aus nur Bestem um die dreihundert Beispiele aussuchte, uns denn heute wieder beschert?

Bernstein, der es mit seinem Spruch über die Elche bis in den Sprichwortschatz der Deutschen schaffte, war nie ein Mann der großen Auftritte. Dass aus seinem Kopf neben dem Kopf F. K. Wächters und Robert Gernhardts legendäre Erfindungen wie „Welt im Spiegel“, „Die Wahrheit über Arnold Hau“ oder „Die Blusen des Böhmen“ stammten, wissen nicht alle. Anders als viele andere künstlerische Einzelgänger war es ihm von Anfang an wichtig, seine Existenz – zeitberufslebens war er Lehrer und Professor – durch einen „richtigen Beruf“ abzusichern. Dadurch war er nie gezwungen, sich durch eine marktschreierisch betonte und individuelle Marke als Zeichner von der Konkurrenz abzusetzen. Das Spielerische, Leichthinnige, eine durch Zurückhaltung und Vielgestalt gesteigerte Wirkung, war Bernsteins Domäne. Er war der Leise unter den Großen und wer ihn erlebte, wusste: seine Bescheidenheit kam, fern jeder Pose, von tief innen.

Den die Junge Welt für ein Jahr begleitenden Blättern fehlt über alles bisher Bemerkte hinaus noch die oft lähmende Erwartung von Öffentlichkeit. Wir durften für ein Jahr Bernstein über die Schulter schauen beim ganz persönlichen, alltäglichen Training jenes für einen Zeichner elementaren Zusammenspiels von Auge und Hand, bei jener Freude am Sehen und künstlerischen Bewältigen dessen, was uns als Welt begegnet. Vielleicht gründet Bernsteins Sympathie für die sozialistische Idee, wie sie in der auf Seite 1 der Jungen Welt vom 22. 4. 2020 prangenden Gestalt Lenins („seine Durchlaucht“) strukturell zum Ausdruck kam, in seinem Misstrauen gegen Hierarchien. Gegenstand seiner zeichnerischen Aufmerksamkeit ist eine simple Kastanie, eine in der Küche abgestellte Plastik-Mülltüte (selbstironischer Titel: „der alte Sack“), eine keimende alte Kartoffel, ein in Bamberg beobachteter Haufen Sperrmüll. Es geht ihm dabei manchmal sehr streng und gekonnt ums genaue Erfassen, die „richtige“ Wiedergabe des Gegenstands, sie gelingt ihm, ohne und mit den unterschiedlichsten Arten von Schraffur,  altmeisterlich; manchmal auch, wie beim Sperrmüll, hat er keine Zeit sich dem Vielen in der Kürze zu widmen: seine Abbreviaturen sind so elegant wie anschaulich, man erkennt die der Vergänglichkeit überantwortete Matratze, den rumpeligen Sessel, den ollen Fernseher von hinten, die Dialektik von Flüchtigkeit und Anschaulichkeit – ein großes Vergnügen. Auch kurz notierte Ideen für Cartoons finden sich, so in der prospektiven Rubrik „Kunst & Ironie“ als ein Beispiel das „Anpinkeln von Kulturträgern“.

Vieles, was andere in Riesenprachtschinken nicht erreichen, die ästhetisch reizvolle aber unsäglich schwierige Umsetzung des für den Zeichner unbegrenzten Raums in die im Fall eines Skizzenbuchs extrem begrenzte Zweidimensionalität der Linie und des planen Papiers – sind Bernstein einfach gegeben. Extrem reduziert der auf dem in den Raum führenden Gleis nach hinten verschwindende Güterzug. Auch dem Zwang zur Pointe schwört er ab, die Scherze ergeben sich oft wie zufällig, wie in „Queen Victoria und mein Radioschwein“. Ausgangspunkt ist meist das Training, der Witz kommt oder er bleibt weg, so entsteht ungekünstelte Leichtigkeit.

Er bedient sich des bei Ausflügen nach „draußen“ praktischen Filzstifts, des guten alten Füllfederhalters, der in Scriptol getauchten Stahlfeder oder schlicht des Blei- oder Fettstifts, er koloriert, wenn überhaupt sparsam mit Buntstiften. Immer ist die Linie dem Thema und der Haltung angemessen: Federleichte Strichelei und wie kichernde Verkürzung der Kontur bei den sich wie aus dem Nichts ergebenden Karikaturen (häufig Selbstbildnisse), mehr grabende Linien im Fall von Bildsatire.

Hinreißend seine Kunst des satirischen Porträtierens. Ein alterHorkheimer gerät ihm ins Niesen, der Bundespräsident mit der Ruckrede ist ein klotziger Machtmensch eines ausgestorbenen Typs der Herrschenden. Mein Favorit: Flaubert im perfekt unperfekt skizzierten Profil. Er sitzt, in radikal sparsamer Lineatur erfasst, in der Luft. Unter ihm am Boden sein Schatten. In der Hand des vor ihm ausgestreckten Arms etwas Rundes. Die Pointe ergibt sich wie so oft bei Bernstein und den anderen aus der Überschrift. Mit ihrer Art Humor revolutionierte die Kerntruppe der Neuen Frankfurter Schule in den 1960er Jahren den unsäglichen deutschen Witz der Kaiser- und Nazizeit. „Flaubert“, steht da, „fährt Motorrad / das gab’s aber noch nicht“. 

Das Jahr mit Bernstein geht zu ende. Wir müssen abermals Abschied nehmen von diesem feinen und leisen, diesem auf seine Art so weisen Menschen, der mitgeholfen hat, das Komische in Deutschland nachhaltig zu vermenschlichen. Gut, dass es die vielen Bücher gibt, in denen er, selten Solo, aber immer ansehnlich, vertreten ist. Wenn es mal wieder ganz traurig aussieht – rausholen und trösten! Junge Welt, Oktober 2020

PRINTTEXTE

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert