Grausen vor der Stagnation. Tabea Zimmermann.Ensemble Resonanz.Enescu.

Tabea Zimmermann Foto. Jann Wilken (Hamburger Abendblatt)

Im Rückblick ging es nur um George Enescu. In deutschen Konzertsälen ist dieser Rumäne (1881-1955) ein seltener Gast. In Reclams gründlichem „Konzertführer“: kein Wort. In Reclams „Kammermusikführer” ein paar indirekte Erwähnungen im Zusammenhang mit bekannteren Altersgenossen. Sein Oktett für Streicher op. 7 hatte die Bratschistin und Ensemble Resonanz-Freundin Tabea Zimmermann für ihren Auftritt am vergangenen Mittwoch in die Laeiszhalle mitgebracht. Enescu war nach der Pause Höhe- und Mittelpunkt des Abends.

Auch vor der Pause Ausgefallenes. Eine „Ouvertüre“ des frühpubertierenden Franz Schubert, frühbedeutsam nur im langsamen Abschnitt vorab: Ein breit in den c-Moll Bereich des Stücks einführender, chromatisch gesättigter Akkord, vom Ensemble Resonanz unnachahmlich lang als Descrescendo in die folgende Fermatenstille versenkt, führte in ein in die Stimmung von Mozarts Trauermusik KV 477 gehendes Dunkel. Danach die Erkenntnis: eine Ouvertüre ohne die dazugehörende Oper hat selbst einen heranwachsenden Schubert noch hörbar überfordert.

Viele am Beginn des 20. Jahrhunderts geborene Komponisten – Ausnahme Giacinto Scelsi – hatten Mühe, sich zurechtzufinden zwischen mahlergeprägtem Ausklingen der Spätromantik und einem von Arnold Schönberg vollzogenen Beginn der Moderne. Wer aber kennt die polnische Geigerin und Komponistin Gracyna Bacewicz (1909-1969)? In ihrem Divertimento, einer spritzigen dreisätzigen Miniatur von um die sieben Minuten, findet sie – die französische Neoklassik, polnische Volkstänze und viel Eigenes im Backpack – souverän eigene Wege. Stark rhythmisch befeuerte Motive, elegant untermischt von Lyrik, Scherzo, Flageolettepassagen, jagen hitzig polyphon transparent durch die Partitur. Der langsame Mittelsatz ein wunderschöner Legatoverschnaufer. Das Extremtempo von Zimmermann/ER (die Solistin saß gut sichtbar rechts vorn an der Rampe am ersten Pult ihres Instruments) erweckte Assoziationen an, sich in einem hektisch geschüttelten Kaleidoskop immer neuformierende Farben und Formteile: ein Konzerterlebnis, so aufregend unbekannt wie kurz.

An dritter Stelle ein von den Deutschfaschisten ausgebremster Bratschenkomponist Paul Hindemith. Seine 1936 in London auf den Tod Georgs V. komponierte Trauermusik für Viola und Streichorchester, klingt manchen Ohren heute wie die Trauermusik auf einen, dessen großes Talent sich im Wechsel der Zeiten als, wie es aussieht, zu wenig entschieden erwies.

Solange noch keine Aufnahme mit Tabea Zimmermann und dem Ensemble Resonanz vorliegt, sei das Video mit arte frizzante empfohlen (https://www.youtube.com/watch?v=Q7OudFUwABw).

Was nach der Pause kam, ist vielleicht schwerer zu beschreiben, als es nach Auskunft der Musiker extrem schwer zu spielen ist. Warum kannten wir so etwas Großartiges bisher nicht? Die solitäre Solistin auf der Bratsche, Tabea Zimmermann, erwies sich als Hebamme im großen Kreißsaal des Übersehenen. Dabei gibt es in diesem Stück im herkömmlichen Sinn gar keine Solistin, fast jedes kommt dran. Enescu verteilt die Stimmen, ausgenommen die so raren wie dramaturgisch einleuchtenden Unisonoabschnitte, auf fast alle Mitwirkende. Wenn überhaupt, ist das streichende Kammerensemble geteilt in die Bassgruppe sowie den sich in stetem Wechsel den weiteren Verlauf der Musik zuspielenden vielen Concertatisti. „Wie außer Rand und Band geratene Zeitströme kreuzen sich (…) acht Stimmen, fließen zusammen, bäumen sich gemeinsam auf, ehe sie sich wieder beruhigen“ (Programmheft).

Der 19jährige Enescu fühlte sich wie ein junger Brückenbauer, der seine erste Hängebrücke über einen Fluss bauen soll; die Details flogen ihm, in Gefahr, abzustürzen um die Ohren. Im fluiden, in seinen Teilen in steter Rotation befindlichen Bau dieser Musik fließt allerdings alles an Material zusammen, was damals für Enescu in der Luft lag: die Volksmusik der Nordwestecke Rumäniens, aus der er kam (bevor er als Geiger die Welt eroberte), der orchestrale Bombast einer altertümlichen, auf den ersten Weltkrieg zu treibenden Sinfonik und nicht zu vergessen das Neue: Arnold Schönberg hatte 1905 seine 1. Kammersinfonie herausgebracht, Enescus Oktett wurde 1909 uraufgeführt, da wussten Vergangenheit und Zukunft noch nicht recht wohin, sie fluten, kontrapunktisch verbunden, im unbändigen Talent des jungen Rumänen ineinander.

Auch im Oktett legt das Ensemble Resonanz ein rasantes Tempo vor, die keineswegs unschönen Spuren der Spätromantik treten zurück; Zimmermann taucht noch den schon bei Enescu der Vergangenheit entrissenen Walzerschwung des Finalsatzes in eine von der Bassgruppe her drängende maschinennah neuzeitliche Beschwingtheit. Man möchte das Stück öfter hören, es gehört ins Standardrepertoire. Denn es erinnert abwechslungsreich und mitreißend daran, wie aufregend es, wenn die Zeiten sich wandeln, auch in der Musikgeschichte zugehen kann. Enescu schienen solche Zeiten zu gefallen, er fand sich grandios in ihnen zurecht; das Programmheft zitiert ihn: „Es graust mich vor allem“, sagte er, „was stagniert.“ junge Welt, November 2023

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