Dolce Versuvio

Unter Verweis auf ältere Beispiele großer Belletristik beklagte unlängst der Autor Jan Decker in dieser Zeitung den Zustand der in der Bundesrepublik für bemerkenswert erachteten aktuellen deutschen Literatur. Als jemand, der sich zuletzt mit Sarah Kuttners Roman „Kurt“ langweilte, darf ich mich kleinformatiger anschließen.

Mir fiel ein kurz vor Corona in dem nicht eben für große Literatur bekannten Verlag Harper Collins erschienenes Buch in die Hände. „Dolce Vesuvio“ steht in Lippenstiftrot mit einem Herzchen statt Pünktchen über dem i auf dem Titel. Es kommt wie ein im Stil der 1950er Jahre für Italien werbender Lore-Romane daher. Hat man die etwas verwirrende Exposition hinter sich, stellt man allerdings beglückt fest: Es ist ein auf ganz verblüffend unlorehafte Weise für Italien werbender Liebesroman.

Denn welcher Lore-Roman hätte je eine Ich-Erzählerin zur Heldin gehabt, die, Anfang zwanzig, hübsch und nicht auf den Mund gefallen, ihr Glück einen Sommer lang als angehende Archäologin in den Ruinen des alten Pompeji suchte? Die Autorin Astrida Wallat hat in Italien Romanistik studiert, sie hat sich offensichtlich, wenn wohl auch nicht in Alessandro, den Angebeteten ihrer Hauptfigur Carlotta, so doch ins Land verliebt, wo die Zitronen blühen.

Wallats Buch entführt per flott und intelligent geschriebener Prosa auf gänzlich unpädagogische Weise in die Welt der italienischen Antike, der literarischen mit Autoren wie Ovid, dem Schwarm der Heldin oder Vergil und in die Welt der architektonischen Antike mit dem in der Asche des letzten großen Ausbruch des Vesuv 79 n.u.Z. untergegangenen alten Pompeji.

Die Autorin macht nicht nur, schön aufgelöst in eine im Verlauf des Buchs immer turbulentere Handlung, erstaunlich kenntnisreich mit dem  antiken Italien bekannt (ihr Mann ist Archäologe). Auch das sommerliche Neapel der Moderne und einige für das Land typische Menschen werden komödienhaft stilisiert, lebendig und humorvoll erzählt.

Astrida Wallat

Ein Sommerbuch. Nichts fehlt. Nicht die durch die Straßen lärmende Tram Circumvesuviana, benannt nach dem titelgebenden, monumental und gelegentlich ein wenig drohend immer wieder auftauchenden neapolitanischen Vulkan am Mittelmeer; nicht eine feine Speisenfolge aktueller wie antiker italienischer Rezepte, zubereitet von Anna, der gewesenen Opernsängerin und nunmehrigen Zimmervermieterin Carlottas, genannt Lollo. Frau und man wohnt, so exakt wie kurzweilig beschrieben, den Ausgrabungen, ihren Komplikationen wie Triumphen bei. Die Liebesgeschichte zweigt zeitweilig in Ausgrabungen der Familiengeschichte ab, die im Zuge einer Capri-Reise ihre Tochter in Pompeji besuchenden Eltern Lollos geraten in überraschende biografische Verwicklungen mit dem italienischen Grabungsleiter, dem Professore Pappalardo. Im Verlauf der gekonnt mit der Leidenschaft für die Archäologie verwobenen Lovestory mutiert Carlotta von der muffelig zickigen Verteidigerin femininer Autonomie zum anschlussfähig selbstbewussten Gesellschaftsmenschen. Gegen Ende eine finale festa antica mit Feuerwerk, reichlich Spumante und üppigen Buffets. Die Protagonisten verwandeln sich per Kostümierung in mythische Götter und Nymphen. Bevor alle Herzen den passenden Widerpart finden, schreibt Astrida Wallat, Carlotta in der dritten Person erzählend, einen so verblüffenden wie großartigen Showdown, nichts Näheres davon, bitte selbst besorgen.

Ein Buch wie gemacht für Urlaubszeiten in Zeiten der Pandemie. Fern die Ferne, nah die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Ausgespart, was sie im Großen verhindert. Es muss ja nicht ewig die Wallstreet und Blackrock sein. Kampanien, Neapel, Pompeji und ein dolce Vesuvio sind auch mal sehr schön. Junge Welt, September 2020

Astrida Wallat: Dolce Vesuvio. Harper Collins. 318 Seiten. 10 Euro.

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