Nadar war immer für eine Sensation gut. Am 18. Oktober 1863 lässt er 200000 Zuschauer unter sich. Richtig gelesen. Unter sich. Denn die Menschen werden langsam immer kleiner, während sich Nadars riesiger Heißluftballon Le Géant, windbedingt weniger langsam als gedacht, vom Pariser Startplatz, dem Marsfeld, entfernt und Richtung Kanalküste entschwebt.
Nadar, er heißt eigentlich Félix Tournachon, wurde als einer der ersten Fotografen der Kunstgeschichte weltberühmt. Er war auch Karikaturist, Satiriker, Romancier; als Jungverleger brachte er eine Novelle Balzacs heraus. Was er macht, bringt Geld. So kann er, der befreundete Jules Verne hat ihn dazu angeregt, 1863 mit dem Riesenballon auf die Reise gehen. Sechs Schlafkammern, Küche und Bad, Druckerpresse, Fotolabor und sogar einen Weinkeller hat das Fluggerät an Bord. Noch in derselben Nacht sichten die Luftreisenden Brüssel. Weit unter ihnen Holland, das offene Meer, es leuchtet im Morgenlicht. Irgendwann ein Fluss, es könnte die Weser sein. Dann ein Sturzflug, ein Sturm, sie rasen auf die Erde zu, knapp unter ihnen zwei galoppierende Pferde, von rechts hinten eine Lokomotive, Turbulenzen ohne Ende. Aber der Ballon bleibt, vom Wasser irgendwie gebremst, schließlich im kleinen Flüsschen Alpe hängen. Alle wohlauf.
Ist es Zufall? Das kleine Flüsschen liegt zehn Kilometer vom Schreibtisch und Wohnort Volker Hagedorns entfernt, der das alles in seinem, gerade in zweiter Auflage herausgekommenen Buch „Der Klang von Paris“ zusammengetragen und aufgeschrieben hat. Mit dem Ballonflug zwanzig Seiten vor Ende seiner 350 Seiten starken Riesenarbeit, hat sich Hagedorn einen der echten Höhepunkte bis zuletzt aufgehoben.
Dass er es schafft, am Ende noch sich selbst mit seiner Erzählung zu verknüpfen, ist Gipfel größter Verknüpfungskunst. Unmengen aus Internet und Bibliotheken zusammengesuchten und vor Ort recherchierten Materials finden im „Klang von Paris“ folgerichtig, über längere Strecken romanhaft, informativ und unterhaltsam zusammen.
Hagedorn, wäre er zur Zeit seiner Erzählung geboren, wäre da, wo er jetzt lebt, ein Landeskind des Königreichs Hannover gewesen. Knüpf! Schon ist über den blinden Welfenkönig Georg V. der Bogen zu einer der Hauptfiguren des Buches geschlagen, dem Komponisten Hector Berlioz, den der blinde hannoversche König, so etwas gab es einmal, hoch verehrte.
Den Ballonflug vorbereitet hatte Hagedorn im Verlauf eines Tischgesprächs zwischen – knüpf! – dem Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer und seinem Kollegen, dem Goethe-Bewunderer Berlioz mit dem – knüpf! – „Faust“ (dem Berlioz ein Werk widmete): „Wir breiten nur den Mantel aus, der soll uns durch die Lüfte tragen“, zitiert Berlioz im Vorausblick auf Nadar gegenüber Meyerbeer Mephisto. Goethe, 1832 gestorben, ragt noch als Zeitgenosse in Hagedorns 1821 beginnende Paris-Geschichte hinein.
Es ist die Geschichte der Stadt des für einen wimpernschlagkurzen Moment revolutionären Bürgertums und eines mit ihm und seiner Ökonomie wachsenden Proletariats, das sich im Verlauf des Buches zweimal revolutionär erhebt – ein vor allem musikalisches Panorama der Metropole an der Seine als Hauptstadt der europäischen Musik im 19. Jahrhundert, Hotspot auch der vorwärtsweisenden Literatur, Malerei und Tanzkunst des alten Kontinents in dieser Zeit.
Darüber, so Hagedorn im Nachwort, denkt man in Deutschland traditionell etwas anders. Nicht zuletzt dank Richard Wagner. Er war mit dem Versuch, sich in Paris durchzusetzen, krachend gescheitert, und „redete später wirkungsvoll klein, was er der europäischen Metropole verdankte“. Das Deutsche, möchte man ergänzen, auf das sich nicht unerhebliche Teile einheimischer Musikwissenschaft beim Kleinreden der Bedeutung nichtdeutscher Musik im 19. Jahrhundert berufen, war vor 1871 staatlich und auch sonst weitgehend fiktiv; und fand mit Beethoven, Brahms und dem, da Salzburg bis 1803 zu Bayern gehörte, etwas provokant den Deutschen zuzurechnenden Mozart, in sehr vielen seiner größten Musikleistungen in Wien statt. Musikalisch waren München, Leipzig, Weimar oder Berlin trotz der Weltgeltung von Komponisten wie Bach, Schumann, Mendelssohn oder Weber international ohnehin eher zweitrangig.
Auch Hector Berlioz, Hagedorn hebt ihn als einen der ganz Großen der europäischen Musik nachdrücklich hervor, zählte lange Zeit zu den von der deutschen Musikwissenschaft Vernachlässigten. Es gehört zur Ironie der Musikgeschichte, dass er zu Lebzeiten im Ausland, in Deutschland besonders von Franz Liszt in Weimar, begeistert gefeiert, in seiner Heimat dagegen lange Zeit eher ungenügend gewürdigt wurde.
Mit ihm beginnt Hagedorns Liebeserklärung an Paris. Berlioz bleibt einer der Hauptfiguren des Buchs bis er 1867 – nicht mehr in der Billigkutsche im Verlauf vierer Tage und Nächte, sondern mit der Eisenbahn in elf Stunden – die Strecke von seiner Heimatregion am Fuß der französischen Alpen bis Paris zum letzten Mal zurücklegt. Die Eisenbahn, Symbol zu Beginn des 19. Jahrhunderts explodierender Produktivkräfte, das Verkehrsmittel der bürgerlichen Eisenzeit, taucht, von Hagedorn vermerkt, auch im Kommunistischen Manifest auf, Marx und Engels haben es 1848 in Paris verfasst. Marx ist an der Seine mit Heinrich Heine befreundet. Meyerbeer und Marx, liest man erstaunt, kennen und schätzen sich 1848 seit vier Jahren. Immer wieder wirft der Autor Blicke auch auf jene drei Fünftel der Pariser Bevölkerung, denen eine Historiografie keine Aufmerksamkeit schenken mag, die sich seit je auf Feldherren und Dynastien beschränkt. „Les Misérables“ wie sie im Roman Victor Hugos heißen, haben kein Geld für Kultur, sie sind mit dem Überleben beschäftigt. In den Armutsquartieren der Ile de la Cité teilen sich zwölf Mieter sechs Betten, sechzig Menschen müssen mit einer Toilette auskommen. „Von je 170 Einwohnern“, schreibt Hagedorn, „kann im Jahr 1839 gerade mal einer die 200 Francs aufbringen, deren Zahlung zur Wahl der Abgeordneten berechtigt. Es ist also das Großbürgertum, das die Gesetze macht, es sind Grundeigentümer, Kaufleute, Beamte, Industrielle.“
1830 schlagen verirrte Gewehrkugeln neben den Fenstern des Institut de France ein, wo Berlioz in Klausur an der Kantate „Sardanapale“ komponiert, die ihm den renommierten Rompreis einbringen wird. Von der Julirevolution bekommt er nicht viel mit. Bevor er zu seinem ersten Geniestreich ausholt, der „Symphonie fantastique“, kommt mit Gioacchino Rossini der in dieser Zeit meistgespielte, meistgeliebte, der erste buchstäblich weltberühmte Komponist in die Stadt. Mit der Grande Opera, die er mitgebracht hat, es ist seine letzte Oper, wird er der Welt beweisen, dass er auch als ernster Komponist, über „Otello“ und „Tancredi” hinaus, Außerordentliches leistet. Sein „Guillaume Tell“ geht mit viel Pomp und Erfolg in der Oper an der Rue LePeletier über die Bühne. Im Lauf eines großen Diners zu Ehren des so liebenswürdigen, wie witzigen und lebenshungrig melancholischen Maestro – knüpf, knüpf, knüpf! – lernt frau und man die berühmtesten Primadonnen der Zeit kennen, eine davon Rossinis aktuelle, eine andere seine spätere Frau. Auf den Tisch, auch für so etwas hat Hagedorn viel Sinn, kommen warme Austern im Kräutersud nach venezianischer Art, gebackene, mit Kräutern und Parmesan gefüllte Sardinen (beides, so der Autor, mag Rossini eigentlich lieber kalt). Man spricht über den Komponisten der Opernpremiere, über seinen Besuch beim den Riesenerfolg des Italieners in Wien nur schwer verkraftenden Beethoven; dessen Lehrer Salieri, hatte Rossini in Wien zu Beethoven gebracht; von Salieri kommt man auf Mozart, von ihm auf die Giftmord-Legende. Eins knüpft sich ans andere, die pure Lesefreude.
Im Dezember 1830 wird die „Symphonie fantastique“ öffentlich. Dem – knüpf! – 19jährigen Franz Liszt im Publikum glühen Augen und Wangen, Meyerbeer ist da, alle sind da, le Tout-Paris, auch Heinrich Heine wäre da, wäre er 1830 bereits in der Stadt. Was für eine neuartige Musik! Gäbe es die Kunstform Film schon, die Leute würden diese Klänge mit der beweglichen Handlung, dem Wechsel der Bilder, der Schnitttechnik der Filmkunst vergleichen. „Die Streicher“, schreibt Hagedorn, „müssen sich mitunter aufteilen in zehn Stimmen, vierfach geteilt allein die ersten Geigen, sie spielen harsch auf dem Steg, sie klopfen mit dem Bogenholz auf die Saiten. Eine dekadente Gesellschaft ist dieser Hexensabbat, und ihr Menetekel wird von schweren Röhrenglocken angekündigt: Den uralten Hymnus des Dies irae, des Jüngsten Gerichts, künden Posaunen und Tuben.“ Man könnte Berlioz‘ revolutionäre Sinfonie als Soundtrack der Barrikadenkämpfe vor seinen Fenstern im Sommer 1830 hören. „Ich habe mir ein modernes Sujet vorgenommen“, schreibt der Maler Eugène Delacroix im Oktober des Jahres an seinen Bruder, „eine Barrikade…wenn ich schon nicht für la patrie siegen kann, male ich wenigstens für sie.“
Heinrich Heine kommt, als einer von 7000 Emigranten aus dem reaktionären Preußen vertrieben, 1831 in Paris an. Sein erster Text als Korrespondent für die Augsburger Allgemeine widmet sich einer Gemäldeausstellung im Louvre, eines der Bilder – knüpf! –: Delacroix‘ „Liberté“. „‘Papa!‘“, lässt der deutsche Poet in einem erfundenen Dialog zweier Museumsbesucher ein Kind den Vater fragen, „‚wer ist die hässliche Frau mit der roten Mütze?‘ ‚Nun, so ganz hässlich ist sie nicht, sie sieht aus wie die schönste von den sieben Todsünden.‘“ Rezensierend weiß man angesichts der Fülle an witzigen Beispielen nicht, wohin greifen in diese hinreißend anschauliche, plausibel unterhaltsame Art, über Kunst in der Geschichte zu schreiben.
Die große Cholera-Epidemie von 1832 hat Heine in den „Französischen Zuständen“ beschrieben. Als Hagedorn diese Quelle nutzte, konnte er nicht ahnen, wie aktuell das alles bei Erscheinen der zweiten Auflage des „Klang von Paris“ knapp 160 Jahre später sein würde. Felix Mendelssohn, er hält sich im Frühjahr 1832 an der Seine auf, schreibt Sätze nach Haus, die heute seltsam vertraut klingen: „Da ist nun an keine Musik, an kein Zusammenleben mehr zu denken“, stellt er angesichts der sich ausbreitenden Furcht vor dem Gespenst der Seuche fest, und auch die „Zeitungsschrecknisse und Übertreibungen“, von denen er berichtet, sind vertraut wie die Mitteilung, dass sich einige Leute offenbar noch auf die Straße trauen: „Eben“ – knüpf! – „kommt Herr Chopin und Herr Liszt. Lassen sehr grüßen unbekannterweise“. „Während der Flieder blüht“, resümiert Hagedorn, „sterben in der Hauptstadt fast 13000 Menschen an der Seuche“, die große Mehrheit unter ihnen, der Autor vergisst es nicht zu erwähnen, sind arm.
Hagedorn bringt die vielen Berühmtheiten seines Buches in bestem Wortsinn nah. Irgendwann Heine und Wagner an einem Tisch der gehobenen Gastronomie. Wieder Austern, „das Dutzend nachweislich zu sechzig Centimes…die Flasche Sautern dazu nur drei Francs“. Thema der beiden – knüpf! – wieder einmal der Pariser Platzhirsch Meyerbeer. Er hat, Hagedorn beschreibt es ausführlich, Wagner wiederholt großzügig geholfen, was ihm der Schöpfer von „Lohengrin“ und „Meistersinger“ in seinem antisemitischen Machwerk „Über das Judentum in der Musik“ übel vergalt. Zu Meyerbeer fällt Heine, Austern schlürfend, die Anekdote vom Komponisten Josef Dessauer ein, der für einige Lieder vom Musikverleger Maurice Schlesinger als Honorar eine Uhr erhalten hatte, die nicht ging. „Und Dessauer ging damit zu Schlesinger. Und was sagt der ihm? Habe ich gesagt, sagt er, dass sie gehen wird? Gehen Ihre Kompositionen? Es geht mir mit Ihren Kompositionen, wie es Ihnen mit meiner Uhr geht. Sie gehen nicht“.
Die Köstlichkeit solcher Anekdoten zu zitieren, bedeutet, viele andere nicht minder kostbare samt der daran geknüpften Biografien weglassen zu müssen. So ist im Zusammenhang mit Nadar als dem Karikaturisten von seinen Kollegen Daumier und Doré die Rede, die wie er für den Charivari arbeiten, auf dessen Seiten Louis XVIII., als Birne dargestellt, das Modell für spätere Krisenaussitzer abgab. Nadar, er ist eine besonders ergiebige Knüpf-Figur, kennt in der Pariser Kunstszene Gott und die Welt. Er fotografiert sie alle. Die seine Freunde Chopin oder Beaudelaire zeigenden Fotos sind maßstäblich. Rossini fotografierte er kostenlos. Wie umständlich das war, entnimmt man einer wunderbar erzählten Passage, in der Hagedorn, weiß der Himmel, woher er die vielen Einzelheiten hat, die Entstehung des bis heute ultimativen Rossini-Fotos schildert, das Vergnügen: Jede und jeder kennt die vielen Einzelheiten aus der optischen Erinnerung an dieses Bild. Bei der Gelegenheit – knüpf! – berichtet Nadar Rossini von einem Gespräch mit Balzac, der ihm auch Modell saß. Acht Sekunden müssen die Herrschaften still halten für Nadars Glasplatten mit der Silberschicht, sie sind zu ihrer Zeit neueste Technologie.
Ein ganzes Kapitel erzählt vom scheuen, wortkargen Chopin und seiner selbstbewussten Lebensgefährtin George Sand. Ist von ihr die Rede, muss – knüpf! – irgendwann unbedingt auch der Dichter der Éducation sentimentale auftauchen, Gustav Flaubert, die beiden schrieben sich hinreißende Briefe. Hagedorn lässt eine Unterrichtstunde Revue passieren, die der die Welt vom Salon aus erobernde Chopin einem vierzehnjährigen Landsmädchen gibt. Zum Reporter mutiert, besucht Hagedorn in St-Martin-d’Etampes den „besten Kenner Pleyelscher Klaviere“, Olivier Fadini. Lesend taucht man in dessen Restauratoren-Werkstatt in die sich akustisch und optisch so sehr von der Luxusgleichmacherei moderner Flügel unterscheidende Welt der Pianofortes aus der Pariser Pleyel-Manufaktur ein; Chopin ließ sich alle fünf Jahre einen neuen Pleyel anfertigen.
Dem aus Köln zugezogenen Wahlpariser Jaques Offenbach widmet sich Hagedorn verknüpft mit der Beschreibung der Politik des auf seltsame Weise mit dem Kapital über Bande spielenden „Kaisers“ Napoleon III., jenes frühen Helden des Staatsstreichfans Carl Schmitt. Hagedorns Sympathie für Offenbachs mitreißend aufmüpfige Musik bewegt sich frei auf einer intimen Vertrautheit mit den Noten, die auf des Autors Zweitberuf verweist, er ist auch Bratschist. Als Louis Napoleon 1851, die 48er Revolution konternd, der kurzen zweiten Republik den Rest gibt, indem er sich für zwanzig Jahre an die Spitze Frankreichs putscht, liegt – knüpf! – der arme Heine schon in seiner Matratzengruft, aus der er fünf Jahre später in den Dichterhimmel hinüber wechselt.
1860 kommt Friedrich Engels zu Wort. Ihm war zu den sozialen Folgen des Baus der eleganten, barrikadenuntauglich breiten Pariser Boulevards des Architektur-Barons Georges-Eugène Haussmann aufgefallen: „Die Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher, worin die kapitalistische Produktionsweise unsere Arbeiter Nacht für Nacht einsperrt, sie werden nicht beseitigt, sie werden nur – verlegt!“
Mit der Ankunft des jungen Berlioz in Paris und dem Tod Napoleons auf St. Helena beginnt das Buch. Es erzählt, Hagedorn zitiert noch einmal Victor Hugo, eine „Übergangszeit“. Die geht 1871 mit Beginn der dritten Republik zu ende. Das Massaker der in diesem Punkt klassensolidarisch vereinten französisch-preußischen Kriegsgegner an etwa 70000 bewaffneten Arbeitern der Pariser Kommune bleibt unerwähnt. Die “Belagerung durch die Preußen“ erscheint Volker Hagedorn gleichwohl als allzu „dumpfer Schlussakkord“. Das Buch endet 1867 mit Berlioz‘ letzter Eisenbahnfahrt, mit dem traurigen Tod seines Sohnes und einem liebevollen Blick des alten Berlioz und seines Autors auf seinen jungen, hochbegabten Kollegen Camille Saint-Saens. Der Klang von Paris, musikhistorisch populär und üppig orchestriert, bleibt nach Lektüre dieses Buches lang im Ohr. Junge Welt, Mai 2020