Roth.Berlioz.Symphonie fantastique.

Der junge Berlioz

Für nicht unerhebliche Teile der Musikwissenschaft ist Hector Berlioz der Erfinder der „Programmmusik“. Damit ist die von Vivaldis Vierjahreszeiten bis zu Beethovens „Schlachtensinfonie“ beliebte Übung gemeint, mit Tönen außermusikalische Realitäten nachzuahmen. Berlioz schien den Herrschaften insoweit originär, als er als Erster nicht Erscheinungen wie eine „Szene am Bach“ oder „Trommeln und Trompeten an der englischen Seite“ musikalisierte, sondern ein literarisches Programm. Die „Symphonie fantastique“, die der französische Dirigent Francois-Xavier Roth mit seinem Ensemble Les Siècle einspielte, beschreibt aufgrund einer  dichterischen Vorlage  leicht autobiographisch das unglückliche Leben eines Künstlers. Über Programmmusik könnte man hadern. Denn es mag der eigenen Fantasie auf die Sprünge helfen, sich beim Hören einer Musik vorab, soweit vorhanden, mit deren literarischem Ausgangspunkt vertraut zu machen. Umgekehrt aber dürfte der Mensch noch nicht geboren sein, der ohne Vorinformation aus einer Programmmusik die literarische Vorlage herauszuhören vermag. Musik ist Musik ist Musik.

Berlioz hat in seiner Heimat nie die ihm zustehende Anerkennung gefunden. Er versagt sich in vielen seiner Werke bis heute dem etablierten Geschmack; bei von anderen ein Berufsleben lang ersehnten „schönen Stellen“ hält er sich nur kurz auf, ihn interessiert es nicht. Er liebte die zu seiner Zeit unverstandenen späten Streichquartette des 33 Jahre älteren Beethoven, den er bewunderte, indem er schneller als die anderen begriff, wie Beethoven es machte. Er machte es anders. Er klingt eckigverschrobener als etwa Mendelssohn, origineller als Brahms, bei ihm haben Schumann, Liszt, Wagner gespickt, er ist aus dem Ärmel moderner als die drei. Aber es wird wohl noch immer eine Weile dauern, bis das mitteleuropäische Ohr sich in seine Musik wirklich eingehört hat.

Mit Francois-Xavier Roth scheint nun ein Musiker erschienen, der Berlioz nicht nur, wie nicht wenige sehr gute Dirigenten mit ihm, außerordentlich schätzt. Roth vermag seine Begeisterung für den unglücklichen, fälschlich der Romantik zugeschriebenen, aber wenn schon, dann eher als Früh-Expressionist einzuordnenden  Berlioz auch auf eine Weise umzusetzen, von der zu hoffen steht, dass sie wieder einer ganzen Menge Leuten mehr klar machen wird, was neu war und toll ist an Berlioz’ Musik.

Roth ist einer aus der zur Zeit wachsenden Zahl inspirierter Dirigenten, die ausloten, welch faszinierende Möglichkeiten an vielen Stellen ein ins Extreme gesteigertes Pianissimo eröffnet. Bei Berlioz trennt er die in dessen genialer Orchestrierung häufig wie autonom agierenden Orchestergruppen per Dynamik voneinander. Die alten Instrumente von Les Siècle trennen per Farben. So sind die Bässe von den Celli unterscheidbar, die Violen von den Geigen. Hörner, Flöten und selbst die sonst immer mehr marginalen Pauken, hier vierfach besetzt, treten in ihrer klangmateriell prächtigen Eigenart deutlich hervor. Nicht nur die hundertjährige Hegemonie der Streicher ist damit überwunden, auch der Zentralismus der Geigen innerhalb der Streicher. Solch demokratische Balance ist nicht allein Dirigentensache, sie ist, die Rolle der tiefen Streicher schon in der Einleitung des ersten Satzes demonstriert es, von Berlioz einkomponiert. So organisch fließend wie bei Roth habe ich Berlioz Übergänge von den Streichern zu den Bläsern und vice versa mitten im Ablauf einer Melodie noch nie gehört. Ein vorgeblich romantischer Werbeblock-Schmachtfetzen  wie die „Symphonie fantastique“ wird so zur realistisch-klaren Klangorgie für aufgeklärt empfindsame Genießerinnen.

2nde Un Bal

Auch ohne die Geschichte vom seltsamen Künstler und seiner Angebeteten zu kennen, der sich auf rauschenden Bällen besäuft, in einsamer Bukolik ertrinkt, im Opiumfieber die eigene Hinrichtung träumt und was sich die Bürgerseele an Gleichnissen ihres Erdenwandels noch so zusammenreimt, erlebt man da ein herrliches Stück Orchestermusik, die Tonspur als Film, schaurigschönes Musiktheater ohne Sänger, ein sinfonisches Hörstück sondergleichen. Francois-Xavier Roth ist für jede und jeden ein Segen, der so etwas zu schätzen weiß.   Junge Welt, Mai 2019

Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 14 (https://www.youtube.com/watch?v=eDWqBbG8Ivw&t=849s)

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