Schubert.Winterreise.Schäfer.Koch

„Das Wesen des Frühlings erkennt man erst im Winter“, sagt Heinrich Heine, „und hinter dem Ofen dichtet man die besten Mailieder.“ Es funktioniert aber auch umgekehrt. Denn eine, bei näherer Betrachtung eigentlich sensationell andere Wege gehende, Neuaufnahme von Schuberts „Winterreise“ erscheint exakt im Anfang eines sich von der Pandemie versuchsweise befreienden scheint’s saft- und kraftvollen Sommers 2021.

Wer über Schuberts, mit der „Winterreise“ geleistete Schaffung des modernen Kunstlieds redet, kann Wiederholungen kaum entgehen, denn es wurde darüber schon so viel Gutes und Richtiges geschrieben. Die „Winterreise“ scheint ausgedeutet. Die Neuproduktion beim kleinen Qualitätslabel AvI allerdings widerlegt derlei Annahmen. Denn der Tenor Markus Schäfer singt derart textverständlich und eigensinnig, der ihm zur Seite erklingende Hammerflügelspieler Tobias Koch „begleitet“ nicht, er inspiriert. Sänger und Zuhörende können sich dem Wortlaut in einer Weise widmen, die eigenproduktiv neue Gesangs- und Hörweisen ermöglicht.

Womit, stärker als gewohnt, der Urheber des Wortlauts der „Winterreise“ in den Fokus gerät, der Dichter Wilhelm Müller. Der handelte sich als unermüdlicher Propagandist der Sache des bereits zur Schubertzeit für seine Freiheit kämpfenden griechischen Volks im anti-freiheitlichen Deutschland den Spottnamen „Griechen-Müller“ ein. Er galt der deutschen Literaturkritik lange als, wie es im Booklet heißt, „durchschnittlicher Feld-Wald-und-Wiesen-Romantiker“.

Der junge Heine indes war von der Panerotik des älteren Dichterkollegen, von dessen Indienstnahme des Volkslieds für aktuelle politische Aussagen hellauf begeistert. Auch, dass der, seinerseits im Ansehen der Fachwelt erst sehr spät auf die ihm angemessene Höhe Beethovens und Mozarts erhobene Schubert nicht zufällig seine zwei liederzyklischen Meilensteine anlässlich Müllers Dichtung hervorbrachte: was kratzte es seit bald anderthalb Jahrhunderten den deutschen Musikprofessor.

Koch und Schäfer nehmen sich Freiheiten. Sie gehen mit Schuberts Text – spiegelverkehrt – wie das immer noch zuverlässig inhaltophobe Regietheater um. Sie provozieren den kritischen Blick auf den Buchstaben sowohl des Texts wie der Musik. Beide Künstler arbeiten im Geist historisierenden Musizierens. Ihr freier Umgang mit dem Text verdankt sich gründlichem Quellenstudium. So fand Markus Schäfer im Anhang einer alten Schubert Ausgabe eine Bearbeitung der „Gesänge des Harfners“. Der Schubert-Förderer und Starbariton, Johann Michael Vogl, hatte sie sich für gemeinsame Auftritte mit Schubert eigens eingerichtet; in den Noten von seiner Hand: ein verblüffendes Maximum an eigenmächtiger Anverwandlung des „originalen“ Schubert. Freilich gab es auch beim mit Vogl auftretenden Schubert keine originalen Noten. Ungeachtet seiner eigenen Partitur, passte auch er nachweislich das, was er auf dem Pianoforte spielte, seinen Schöpferlaunen und der Stimmung im Moment der Aufführung an.

Markus Schäfer und Tobias Koch (l.)

So stellt diese Neuaufnahme nicht nur die heute gängige Aufführungspraxis infrage. Sie hinterfragt nachdrücklich auch das moderne „Konzertsaalgeschehen“, so Tobias Koch in seinen Booklet-Ausführungen. Im Konzertsaal des 21. Jahrhunderts gehe es, sagt er, oft immer noch „objektiv“ zu und betont „sachlich“.

Aber Musik aufseiten aller Beteiligten ist – im Moment ihrer Entstehung wie in ihrem Bühnenleben – etwas zutiefst Subjektives. Was die Musikwissenschaft sehr lange als „Urtext“ festhielt und heiligte, ist, so Theodor W. Adorno, nichts als „die Kopie eines nicht vorhandenen Originals“.

Die frische Kopie Schäfers und Kochs, das darf nicht unerwähnt bleiben, ist bei allen wichtigen Überlegungen für den Kopf, auch ein Viersterne-Menü für die Ohren. Der Sänger wird dem selbstgestellten Anspruch gerecht, wie er selbst zu klingen, wie der, sich gerade so oder anders fühlende, Interpret Markus Schäfer. Er klingt in ungekünstelter Tonschönheit, in bescheiden tief empfundenem Sinn, nach einem atmend singenden Menschen, nicht nach Idol, nicht nach tönender Absicht. Und Tobias Koch? Ein unaufdringlich meisterlicher Großvirtuose des pianistischen Moments, der Schrecken des „Urtexts“. Der dritte im Bund: das Pianoforte der 1830er Jahre aus Kochs Instrumentensammlung, hergestellt von einem unbekannten Klavierbauer, Gott hab ihn selig. Sein Instrument, wie gemacht für den Aufführungsmoment, passt sich, als wisse der Spieler nichts davon, naturhaft der Menschenstimme an. Das alte Klavier kann aber auch dramatisch. Der Dezibelzahl nach vielleicht gar nicht einmal so besonders laut oder leise, bringt es fortissimo, wenn angesagt, die klanglich gestische Gestalt des intensiv Bedrohlichen hervor. Oder pianissimo – es hat ein drittes Pedal für so etwas – die des dämmrig durchsichtig Verwunschenen. Wie kann man Schubert überhaupt guten Gewissens auf einem modernen Konzertflügel spielen, wenn man nicht ausnahmsweise, sagen wir, Alfred Brendel heißt, Artur Schnabel oder – ! – Maria Judina. Der moderne Konzertflügel ist Gleichmacherei auf je individuellem Höchstniveau. Glaubt niemand*? Es wäre an dieser Neuaufnahme zu überprüfen! Junge Welt, Juni 2021

Schubert: Die Winterreise D 911 – Markus Schäfer, Tobias Koch (AvI/Helikon Harmonia Mundi France)

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