Der Ton macht die Musik.

Da waren sie noch etwas jünger: Isabelle Faust und Sasha Melnikov

Der Ton macht die Musik. Ein Sprichwort, eine Sentenz, sie will zur Musik nicht viel sagen. Der Ton macht in der Musik sehr viel. Er hat durchweg einen Ort – gelegentlich auch saust oder schrammt er wie eine Achterbahn glissando über alle Orte hinweg –, er hat eine Richtung, einen Zusammenhang, eine Lautstärke, in Summa eine Dynamik; all das gilt für seine in der Musik plurale Erscheinungsform: die Töne. Er hat im Singular zweitens einen Klang.

Auslöser für derlei Gedanken war eine außergewöhnliche Aufnahme der „Kreutzer Sonate“ Beethovens. Die Geigerin Isabelle Faust, auf Augenhöhe begleitet vom Pianisten Alexander Melnikov, haben sie vor nicht gar so vielen Jahren herausgebracht. Im zweiten Satz dieses Werks bringen sie Variationen zu Gehör. Alexander Melnikov spielte zum Zeitpunkt der Aufnahme noch auf einem modernen Konzertflügel. Der hat klanglich seit fast zweihundert Jahren wenig, im Wesentlichen immer das Gleiche zu bieten. Die Geige Isabelle Fausts dagegen – eine Fundgrube des Klangs.

Sie hat für diese Aufnahme Darmsaiten auf ihr Instrument gezogen. Das Gedärm der Tiere ist seit Jahrhunderten ein wichtiges Medium der Streicher. Dann kam die Industrie. Die Geigen wurden mit Saiten aus Stahl bespannt, die Komponisten ab etwa Brahms, bis hin zu Schostakowitsch hatten mit Stahlsaiten zu rechnen. Die hatten den Vorteil, haltbarer und weniger witterungsabhängig zu sein; sie führten zur Vereinheitlichung des Klangs. Dagegen suchte man später die für Streicherklänge offenbare Unverzichtbarkeit des Darms damit zu retten, dass man die Geigen mit Saiten bespannte, deren Darm mit haarfeinem Stahldraht umwickelt war, das Resultat: die Tendenz zu einem glatten, standardisierten Streicherklang stabilisierte sich.

Die industrielle Revolution nicht nur bei den Streichern beseitigte den jedem Einzelinstrument eigentümlichen Klang. Die Flöten mutierten von Holz zu Metall, die natürliche Luftsäule der Hörner wurde per Ventilen und Tastendruck lenkbar, die Pauken wurden statt mit Kalbfell mit Kunststoff bespannt, im Bauch der so gar nicht mehr nach Holz aussehenden Klaviere trotzte ein gusseiserner Rahmen dem vielfach gestiegenen Spannungsdruck auf Saiten, die viel dicker sein mussten, weil das Klavier viel lauter tönen sollte, die Säle waren ja viel größer geworden, denn die Veranstalter konnten mit Musik von der Zeit Beethovens an viel Geld verdienen.

Dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer ist die Kreutzer-Sonate zwar gewidmet, karrierebedingt, Beethoven plante zur Zeit ihrer Fertigstellung, nach Paris umzusiedeln. Aber es wurde nichts daraus, Kreutzer hat sie nie gespielt. Es war George Polgreen Bridgetower, der Sohn eines aus Barbados zugewanderten „Kammermohren“ des europäischen Hochadels, für den sie der Tonsetzer schuf; beide spielten 1803 im Wiener Augarten die Uraufführung. Sie müssen auf ihren Instrumenten hochvirtuos und gutfreund gewesen sein, hitzig, wie sie sich im ersten Satz die Bälle zuspielen.

I. Adagio sostenuto. Presto

Im Vergleich zu den maximalistischen Verunstaltungen, die eine Geigerin wie Anne-Sophie Mutter der Kreutzer-Sonate angetan hat, dringen die Lichter der Kunst Isabelle Fausts aus der Sphäre zarter Halbschatten ans Ohr. Ihre Dramaturgie gründet im differenzierten Piano, es ist der Bereich, in dem der wirkliche Klang einer Geige hörbar wird. Wie großartig Faust auch Fortissimo kann, beweist sie in den Ecksätzen. Aber in vielen Passagen jener Variationen im mittleren Satz, die dominant von der Geige bestritten werden, wird ihr Ton bis an den Rand der Brüchigkeit durchsichtig. Er verallgemeinert sich nicht in einem, alle Erdenschwere hinter sich lassenden Begriff von Schönheit. Er macht das Gegenteil. Er betont den jedes Mal anders klingenden Augenblick des Ertönens. Statt in der vibratogehöhten Vollkommenheit des Klangs alles Irdische auszublenden, lässt er die Materie hören, das Kratzen des geharzten Bogenhaars auf dem unebenen Saitendarm, ein impressionistischer Effekt von großer Sprödigkeit. Der Fokus, statt nach oben, verlegt sich ins imaginative Innen. Statt Anbetung entsteht Anregung, Öffnung, Annäherung.

Neben der Wahrnehmung des Verlaufs der Töne, den Melodien, dem „Inhalt“, hört eins: da arbeitet – ! – ein künstlerischer Mensch. Der Partner am Klavier tut das nicht minder großartig. Aber dem Ton der Geige ist unmittelbar zu entnehmen, wie da jemand gezielt in die Saiten greift, wie der Bogen bewegt wird, wie er – verhauchend oder in oft schneidender, schmetternder Wortmeldung – behauptet, springt oder lange Kantilenen zieht und: wie ungemein schwer es sein muss, im dünnen Klang nonvibrato noch in höchsten Lagen die Tonhöhe akkurat zu treffen und dabei so präsent zu sein wie in einem lautstarken Doppelgriff.

Kreutzer Sonate op. 47 – Andante con variazioni

Es ist in der Kreutzer-Sonate in dieser Aufnahme besonders der Variationensatz, der all das aufruft. Isabelle Faust drängt es nicht auf. Sie ermöglicht es, sie ist die Überbringerin. Der Ton, kurzum, macht bei ihr sehr viel in der Musik.

Beethoven: Sonate A-Dur op. 47 – Isabelle Faust, Alexander Melnikov (Harmonia Mundi France) oder eben erfreulicherweise und leider, scheinbar kostenlos, auf Youtube und Spotify.

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