Am Anfang war das Klavier zwar nicht. Am Anfang waren Flöte und Horn. Aber die Keimzelle des modernen Tasteninstruments taucht schon irgendwo in der Frühgeschichte auf. Es war etwas, das eins sich heute wie eine primitive Lyra oder Harfe vorstellen kann – die ersten Instrumente, auf denen ein:e Einzelne:r zur gleichen Zeit mehrere Töne zugleich hervorzubringen in der Lage war. Bis dahin nur einem Kollektiv mögliche Musikverläufe konnten von da an auf einem einzigen Instrument entworfen und gespielt werden.
Zwischen dem Erklingen erster Harmonien auf nur einem Saiteninstrument und dem Auftauchen des „Wohltemperierten Klavier“ als des ersten Weltatlas des Klavierspiels liegen mehrere Jahrtausende. Ursprünglich von Hand gezupft, wurden die Saiten zu Zeiten Bachs längst mechanisch durch auf Tasten drückende Finger ausgelöst. Bach nutzte in bis dahin unbekannter Ausführlichkeit die sich aus dem Wechsel von der „mitteltönigen“ zur physikalisch ausgewogeneren „wohltemperierten“ Klavierstimmung ergebende erhebliche Ausweitung der Zahl auf dem Klavier spielbarer Tonarten. Die zwei Bände des Wohltemperierten Klavier erschienen 1722 (Köthen) und 1744 (Leipzig), eine Arbeit, begonnen in der reifen Kraft der Jugend, ergänzt und vollendet im Überblick des Alters. Sie haben für lange Zeit das kompositorische wie das klavieristische Denken Europas und seinen Fundus an musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten bestimmt. Sind sie für die Hörergemeinde einer spirituell umsichtig erdachten Musik ein grenzenloses Kompendium seelischer Befindlichkeiten, stellen sie die Tasteninstrumentalisten bis heute vor ernste technische und interpretatorische Probleme.
Der aktuell letzte, der sich ihnen stellt, ist mit seiner Neuaufnahme des zweiten Teils des Wohltemperierten Klavier Andreas Staier, der wichtigste deutsche Solist auf alten Tasteninstrumenten. Extrem lange hat er in seiner Karriere warten müssen, bis der behäbige Betrieb, in dem er arbeitet, begann, sich darauf einzustellen, dass Staier, ausgerüstet mit den lebendigsten Fingern und einer außergewöhnlichen musikalischen Intelligenz und Bildung, auf den „Clavieren“ spielt, auf denen die alte Musik erdacht und erklungen war – zu Bachs Zeit der Kielflügel, das Clavichord und vorab das Cembalo, ein Instrument, das zwar dynamisch starr ist – es hat kein Pedal, der Tastendruck bewirkt dynamisch nichts –, dafür verfügt es über eine, in der obertonreich farblichen Mischung ihres natürlichen Nachklangs einzigartig fein ziselierte Zeichnung der Einzellinien, es hat nasal und orgelähnlich klingende oder lautenähnliche Register für besondere Charaktere und Gestimmtheiten. Reden wir also nicht von den bis vor kurzem monopolistisch präsenten Bach-Interpretationen auf modernen Konzertflügeln, reden wir auch nicht von Pianisten wie Andras Schiff, Glenn Gould oder Friedrich Gulda, die Bachs Klaviermusik auch auf modernen Instrumenten nicht übel hinbekommen haben. Reden wir von Andreas Staier und davon, wie er das Wohltemperierte Klavier präsentiert.
Sein Ausdrucksvermögen mit den Jahren hat gelernt, sich gutzustellen mit einem starken Intellekt. In einem Lieblingsstück wie etwa dem gis-Moll Präludium erweist sich das im besten Fall Ungebärdige, in anderen Stücken Lyrische in diesem Tastenkünstler als unermüdlich verlässlicher Motor. In den durchlaufenden Fast-Alberti-Bässen entsteht dergestalt eine Energie, eine Dynamik, die durch den dichten Satz hindurch, in immer wieder abwärts gehenden Vierteln und einem heiter insistierenden vielfach verzierten Dreiton-Motiv in der rechten Hand, durchschlagen bis ins Gesamtgeschehen. Das Stück unter Staiers Fingern funkelt rhythmisch und harmonisch in immer neuen Konzertfarben und Lichtern.
Vieles von der Kunstfertigkeit und Raffinesse, mit der es im Wohltemperierten Klavier harmonisch und kontrapunktisch zugeht, ist nur lesend zu ermitteln. Aber auch hörend bekommt man in Staiers Spiel eine Ahnung von den formalen Gewagtheiten und manuellen Schwierigkeiten zum Beispiel in der sich am Ende wie ein tönend michelangeleskes Deckengemälde über die Hörenden wölbenden und alles krönenden Fuge in b-Moll. In solchen Stücken zeigt sich, dass es nicht Perfektion ist, die Staiers Spiel auszeichnet. Es ist Souveränität, die lebt. Zum Beispiel in der Sicherheit, mit der Staier Stauungen, kaum merkliche Unebenheiten einstreut in die absolute Ordnung der in diesem Fall herrlich chromatisch aufgeladenen Bachschen Partitur. Niemand kann eine Basslinie so fast mechanisch gleichmäßig halten wie dieser Pianist, dessen rechte Hand im Auftrag Bachs zugleich bisweilen erstaunlich eigene Wege findet.
Staiers gelassener Souveränität gelingt es mit den ersten Akkorden, dem ersten gebrochenen Dreiklang eines Vorspiels oder einer Fuge, eine der in unglaublicher Vielfalt hervortretenden verschiedenen Stimmungen und Auren herzustellen, die Bach im Wohltemperierten Klavier aufruft. Eins betritt in den 2 mal 24 Einzelstücken mal eine Bürgerstube mit bukolischer Lautenmusik, mal einen fürstlichen Festsaal in punktiert voranschreitender Fis-Dur Repräsentanz, dann wieder ist eins überfunkelt von der spielerischen Virtuosität eines Präludiums wie dem in G-Dur nur, um in Fugen wie der in Es-Dur mit himmelhoch kraftstrotzender Strenge konfrontiert zu sein. Staier beherrscht und beherzigt das Feeling der vielen Tänze, die Bach als Grundmuster der Bewegung einschreibt, so gut wie die von Leben durchpulste Logik der Architektur seiner Fugen. Noch der in orgelklanglicher Zugespitztheit etwas steifen, wie kaltgemeißelten Fuge in g-Moll weiß Staier einen dramatischen Drive, eine sich über die Sperrigkeit hinwegsetzende Vorwärtsenergie zu geben. Überhaupt die Fugen. Mit Bach befreit sie Staier von ihrem Gout, trocken und akademisch zu sein, er zeigt, wie viel Bauch und Anderssein sie haben können, ohne an geistiger Höhe zu verlieren
Es ist die große Kunst solcher Virtuosen, die vielen, nur durch ihre – rund um den Quintenzirkel führende – chromatische Reihung verbundenen Tonarten, in ihrem unverwechselbar einzigen Charakter hervorzuheben und dabei Stimmungswelten aneinander und gegeneinander zu stellen, die in Summa schier die Welt umfassen. Andreas Staier hat’s gewagt. Er hat gewonnen.
Junge Welt, Dezember 2021
J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier II, BWV 870 – 893 – Andreas Staier, Cembalo (Harmonia Mundi France)