Der Film ist besser als der Roman. Oder umgekehrt. Oder wie etwa in Christian Petzolds Verfilmung von Anna Seghers‘ „Transit“, hat eines mit dem anderen irritierend wenig zu tun – eine alte Diskussion. Es gibt verschiedene Erzählweisen. Auch bei Musikvideos. Die einen – gut und weniger gut – bebildern nur die Musik. Andere gehen anlässlich der Musik eigene, vielleicht am Ende bessere Wege als die Musik.
Aber Musikvideos mit Beethoven, Bach oder Mahler? Hat meines Wissens noch niemand versucht. Da kommt Teodor Currentzis gerade recht. Mit seiner aktuellen Veröffentlichung schaut er wieder einmal zu den von ihm mit so viel Neugier und Gewinn beobachteten Pop- und Rockkollegen hinüber. „Fragments“ nennt er das Projekt: jede Folge bringt nur eine Szene aus einer Oper, sozusagen ein EP/Mini-Album, eine Auskopplung. Auf „fragments I“ geht es ums Vorspiel zum dritten Akt und um Violettas Arie „Addio del passato“ aus Verdis „La Traviata“. Wie alle anderen Folgen wird auch diese von einem von verschiedenen Filmemachern hergestellten Musikvideo begleitet..
Bei Rock und Popmusik handelt es sich, mit herausragenden Ausnahmen wie Jimi Hendrix‘ „Star Sprangled Banner“, durchweg um Vokalmusik. Da muss nur die instrumentale Begleitung zu den gesungenen Texten und zur Art passen, wie sie vorgetragen werden. In der Klassik dagegen ist seit Entstehung des Kunstlieds aus dem Volkslied im späten Mittelalter schon das Verhältnis des Worts zur begleitenden Instrumentalmusik problematisch. Bis hin zu Mozart stritten sich anlässlich von Opernproduktionen Poeten und Musiker, wer wessen Diener und Dienerin sei. Die Vertreter von Wort wie Musik fürchteten, durchs jeweils Andere in den Schatten gestellt zu werden. Wort, Musik – und nun auch noch laufende Bilder?
Die klassische Instrumentalmusik gilt schon deshalb als „absolute Musik“, weil sie dieses Dilemma hinter sich ließ. In ihr – auch in klassischer Vokalmusik – entstehen bei Aufführungen im magischen Dreieck zwischen Komponist-Interpreten-Hörenden per Imagination und Assoziation so viele Inhalte, Vorstellungen, Gefühle wie Ohrenpaare anwesend sind. Die Hörenden arbeiten mit. Bilder stören das faszinierende Kollektivprodukt Musik, Bilder sind redundant, denn sie entstehen von selbst in allen, die zuhören. Soweit der Purist.
Wenn aber, so die Liebhaberin, durchs Video nennenswert mehr Menschen aufmerksam würden auf in diesem Fall Verdis himmlische Musik – großartig. Currentzis probiert es aus. Das Traviata-Video ist auf Youtube abrufbar (https://teodorcurrentzis.lnk.to/traviata). In grobkörnig rauchigem Schwarzweiß und melancholischem Grau schaffen die Filmer von NOIR an der Grenze zu edelstem Kitsch eine expressionistische Parallelwelt zur Musik. Auch die Sänger, die Musiker und Currentzis selbst – allesamt leben und arbeiten in Sankt Petersburg – sind in unwirklich weichzeichnendes Halblicht getaucht.
Die pure Musik – auch das, soweit mir bekannt, ein nach Zukunft riechendes Novum in der Klassik – gibt’s nicht als CD, eins kann sie als Bezahl-File auf den einschlägigen Plattformen herunterladen. Das Vorspiel wirkt zunächst wie der kleine Zwitter eines Mahler-Adagio, spätromantische Verklärung durch gesellschaftliche Ächtung hervorgerufener Einsamkeit, sehnend auratisch räumlich. Durch die Herauslösung aus dem dramatischen Fluss der Opernerzählung bekommt das Ganze etwas zu viel sinfonisches Gewicht. Nadeshda Pavlovas Sopran, mädchenhaft schmal geführt, voller Lebensangst, bei aller Präsenz sparsam timbriert, überzeugt dann allerdings durch ihre Art undivenhaften Verismus‘. Sie und ihre Arie sind der Höhepunkt, sie ist das Ereignis. Currentzis Ausnahme-Kapelle musicAeterna ((bitte exakt so!)) spielt wie immer faszinierend sicher in einer Perfektion, die nie leblos wirkt. Nur gelegentlich irritiert der Luxus der ihr auferlegten dynamischen Hyper-Raffinesse. Spätromantik wie gemalt von Gerhard Richter, geladen allerdings mit der Energie eines Eugène Delacroix. Ein Pilot-Schmankerl, ein Lockangebot. Schön, wenn es verfinge. Junge Welt, Dezember 2020
Fragments, Part 1 Traviata – musicAeterna / Nadeshda Pawlowa / Teodor Currentzis (Sony Classical)