Die Rheintöchter tragen Gummistiefel, Götterchef Wotan Designerklamotten, die Angehörigen der niederen Gesellschaftsschichten suhlen sich in Müll und Schmutzwasser, und Freia, Lieferantin göttlicher Jugend, erscheint als Domina. Alle Zutaten also für erneut die große Regie-Theater-Kacke. Aber Irrtum: Wagners »Rheingold« bei der diesjährigen Ruhrtriennale, unter der Regie von Johan Simons und der musikalischen Leitung von Teodor Currentzis, ist eine Erlösung. Denn vor lauter neoliberalen Gummistiefeln und Dominas hatten wir ganz vergessen, dass Kunst das noch kann (und immer konnte): Menschen packen, indem sie sie mitten in ihrer Existenz trifft.
Die Orchesterstühle auf der Riesenbühne der Bochumer Jahrhunderthalle und das Dirigentenpult sind leer, wenn das Licht abgedunkelt wird und Mika Vainios elektronische Version des Wagnerschen Kontra-Es, der wagnerlaweiernde Es-Dur-Akkord in den Ohren schaukelt. Currentzis, rechts und links untergehakt mit drei oder vier seiner Musiker, marschiert, gefolgt von seinen Leuten, ein. »Wir haben eine Botschaft!« sagt diese Demo auch ohne Transparent und: »Wir sind Nibelheim, die Wagnersche Sphäre der Arbeit, denn Musiker arbeiten hart, also hört uns zu!«
Die Orchesterbühne ist die Mitte des dreiteiligen Bühnenbilds (Bettina Pommer). Hier agiert Currentzis Wunderorchester MusicAeterna. Ganz gegen Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk, aber zentral in Johan Simons Konzeption der Offenlegung sind die Musiker nicht, wie in Bayreuth, verborgen im abgedeckten Orchestergraben. Das Orchester greift sichtbar in die Handlung ein; die Streicher an hochdramatischen Stellen wie der Nibelungen-Malocher-Höhle im dritten Bild springen auf und spielen im Stehen. Über dem Orchester – weiß, verschlossen und künstlich – Walhall, das »Eigenheim« Wotans (Elfriede Jelinek); Nibelheims Riesen Fafner und Fasolt haben es erbaut. Sie werden um ihren Lohn betrogen. Es geht um Macht, Herrschaft und Betrug im „Rheingold“.
In den 1848er Tagen, als Wagner die »Ring«-Tetralogie konzipierte (»Rheingold« ist eine Art Prolog), stand er mit Bakunin auf den Dresdner Barrikaden. Er kannte Proudhons Schriften, hatte im politischen Exil Kontakt auch zu Marx und Engels. Aber die Arbeiterklasse war noch nicht wirklich da. Marx steckt bei Wagner noch tief im Mythos (und kam da leider nie wieder heraus). Der Nibelung und Frühkapitalist Alberich, ansässig im schmutzwasserverseuchten Trümmerfeld des unteren Bühnenteils, macht den feudalen Müßiggängern die Macht mittels eines Zaubers streitig: Der goldene »Ring des Nibelungen«, geschmiedet von Alberichs Zwergen, lässt ihn zum Herrscher der Welt werden.
Wer hinschauen konnte, fand Kleinodien in dieser Inszenierung. So Fafner, am Ende seiner Wünsche, er sitzt da und streichelt stieren Blicks nur noch den Goldklumpen in seinem Schoß – ein satirisches Bild, Vorgriff auf die Stelle im »Siegfried«, wo er, als Drache verwandelt, auf dem Goldschatz liegt, und Siegfried fragt ihn: »Was tust du?« Die Antwort: »Ich besitze!«
Jeder Gummistiefel und jeder Dominastiefel hat seinen Sinn bei Simons. Walhall, wie die Prachtvillen der Milliardäre auf privaten griechischen Inseln, ist nicht zum Wohnen da, es ist Anlageobjekt, die Besitzer werden darin nie heimisch. Freias Sexkostüm sagt: Sie ist das von allen Männern begehrte Tauschobjekt Frau; an prall-naturalistischen Sexpuppen im Schmutzwasser reagiert Alberich am Beginn seine Geilheit ab. Es ist unsere Zeit, die da erscheint in Wagners Parabel, in Simons’ Inszenierung.
Wie sonst nie bei Wagner gibt es keine Längen in dieser Oper, man wartet nicht endlos auf die »schönen Stellen«. Wagners Musik – dafür ist Teodor Currentzis sowieso Spezialist – scheint die Handlung voranzutreiben, die Musik ist wie aufgehoben in den Dialogen, es entsteht ein Sog (dank Übertiteln ist alles bestens verständlich).
Die vom holländischen Regisseur ergänzte Figur des Götter-Dieners Sintold greift im rasenden Rhythmus der Ambosse zum Megaphon und schlägt in einem furiosen Text (Jelinek u.a.) den Bogen bis zu den apokalyptischen Katastrophen, die die »Macht-Haber«, die bis heute herrschenden Götter des Gemetzels, derzeit in Nahost veranstalten. Und was sie früher mit Speeren und Kanonen verrichteten, auch das kommt übers Megaphon, schaffen sie heute mit Finanzprodukten. Aber schon Wagner wusste, es ist der Inhalt seines »Ring«: Sie werden mit den Widersprüchen, kraft derer sie zur Herrschaft gelangten, nie fertig. Krupp, Gulbenkian, Gates, egal, der Fluch des Goldes holt sie ein. Am Ende steht der Götter Dämmerung.
Ob die Welt das überlebt, ist eine andere Frage. Der Beifall des begeisterten Publikums nährte die Hoffnung, dass Menschen, ästhetisch und intellektuell in einem solchen Maß beglückt, bereit und in der Lage sind zu erkennen, was Sache ist. Und genau das hat Richard Wagner in seinen besten Schriften als die wahre Demokratisierung von Musik und Kunst propagiert. Junge Welt, 2015