Regula Mühlemann.Mozart-Arien.

 Über Musik zu schreiben, speziell über Gesang, ist mindestens so schwierig wie über den Wein. Es ist, hat ein kluger Kopf einmal gesagt, fast so unmöglich, wie zu Architektur zu tanzen.

Man kann sich ans Objektive halten, an die Gesangstechnik, das Volumen der Stimme, an ihre natürliche Tönung, die Genauigkeit der Intonation; beim  Wein an die Struktur, an Säure, Zucker, Aromen, Alter, den Grad der Komplexität – fast alle dieser Kriterien sind bei Beschreibung beider Sphären wechselseitig verwendbar.

Sie reichen aber nicht aus. Alle Angaben  über die studierte und die naturgegebene Eigenart der Stimme können den wirklichen Eindruck, den etwa die neue CD mit Mozart-Arien der Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann im Ohr hinterlässt, so wenig wiedergeben, wie die präzisesten Auskünfte über Inhaltsstoffe, Terroir und Kellerphilosophie schlussendlich etwas zu sagen vermögen darüber, was ein großer Moselriesling, sagen wir von Heymann-Löwenstein, am Gaumen und in der Seele anrichtet.

Was fehlt? Natürlich das Gefühl. Die Frage lautet: Erreicht, was da im Glas wie in der Kehle an Raffinesse und Können aufgeboten wird, unsere Empfindungen? Die Wahrnehmung der technisch-materiellen Seiten einer kulturellen Leistung kann gelernt werden, es gibt Studiengänge für Musikredakteure, für Somelliers et cetera. Der der Sache gewiss nicht abträgliche, im Zweifel schlechte Geschmack wird dem Bürgerkind im Elternhaus ohnehin mit auf den Lebensweg gegeben.

Das heißt, die Mehrheit dieser vielen eigenartigen Subjekte, die da einen Riesling von Heymann-Löwenstein oder eben die Leistung der Sopranistin Regula Mühlemann aus Adligenswil begutachten, kann eine auf Schiefer gewachsene große Lage von einer auf Kalk, Mergel und Löss erzogenen so gut unterscheiden, wie sie die Stimme Regula Mühlemanns von den Stimmen, sagen wir Christine Schäfers oder der Callas zu unterscheiden vermögen. Sie nehmen sich in den meisten Fällen sogar die Freiheit, sich eine Meinung zu bilden, am Ende eine Präferenz, die verfechten sie. Denn Geschmack zu haben heißt üblicherweise, eine Position zu vertreten.

Nur eben – alles subjektiv, alles Gefühlssache. Und für Gefühle gibt es dem Himmel sei Dank noch keine Akademien. Die „Schule der Liebenden“, so der Untertitel von Mozarts Oper Cosi fan tutte, bleibt das Leben. Insoweit sei die These erlaubt und alle Spinnefeinde jeder Wortbildung mit „kultur“ am Ende, zu denen ich selbst gehöre, um Verzeihung gebeten: der wichtigste Schlüssel für die Kunst ist, mindestens seit Schiller und Weimar vor gut zweihundert Jahren, die Herzenskultur

Der Vergleich der Musik mit dem Wein war bis hierhin der nun endende Versuch, einem unter Klassikfans bis heute wirksamen Dünkel entgegenzuwirken: Klassik ist nicht besser als Irgendetwas, sie ist Teil eines größeren kulturellen Zusammenhangs, in den auch der Wein gehört. In der Klassik geht es ums Formerkennen und Übersichtbekommen, um Orgien ästhetischer Ordnungsgefühle. Und – selbst bei kompletten Kopfmenschen – am Ende immer ums Emotive.

Ein Lesepublikum folgt in der Regel jenen Autorinnen und Autoren, deren Subjektivität es durch wiederholten Abgleich mit eigenen Kunst- und Lebenserfahrungen positiv überprüft hat; sie sind eine Art Pilot-Gemüt, denen eins wenigstens bis zum ersten Hören der Musik folgt, die sie empfahlen. Ob ich aber Regula Mühlemanns neue CD mit Mozart-Arien empfehlen soll?

Die junge Künstlerin (*1986) hat sich in recht kurzer Zeit einen Rang als internationaler Gesangsstar erarbeitet. Man hört sie überall am liebsten als Mozart-Sängerin. Der nächste Höhepunkt ihrer Karriere im Oktober 2020: Der Auftritt in Hans Neuenfels‘ Neuinszenierung der Entführung aus dem Serail im Rom der Opernwelt, der Staatsoper in Wien. Eine „glockenhelle, lichtvolle“, eine „silbrige“ Stimme nimmt die internationale Presse wahr. „Ihr Gesang wirkte so leicht wie Atmen, ihre hohen Töne flossen mühelos in den Raum“, schrieb die Badische Zeitung. Wer die neue CD hört und ästhetisch nicht gänzlich auf dem Hund ist, wird an dieser Stelle heftig nicken. Regula Mühlemanns Stimme ist traumhaft sicher, natürlich geführt, weich, warm und wendig, jeder Ton, wo er hingehört.

Was Mozarts Opern vor allen anderen ausmacht, ist seine Fähigkeit, für weibliche Stimmen nicht nur einen genuin weiblichen Ton zu komponieren, es tritt uns in ihnen darüber hinaus eine in ihrer Verschiedenheit psychologisch und sozial genau erfasste Typologie mitteleuropäischer Frauenfiguren des ausgehenden 18. Jahrhunderts entgegen. Mozart ist der empathische Feminologe der Operngeschichte, die Zyniker der Verspottung des Guten im Menschen nennen ihn einen „Frauenversteher“. Er war, nicht nur in seinen Opern, ein Mann mit viel Sinn und Sinnlichkeit für Frauen, kein Don Giovanni und auch kein Don Alfonso, eher – nur was das schöne Geschlecht angeht – ein Papageno im besten Sinn naiver Lebensfreude (Mozart selbst hat sich seltsamerweise in einem Brief recht abfällig über seine so populäre, auf ihre sommersprossige Art Rousseau so nahe Figur geäußert).

Viele der mozartschen Frauenrollen hat Regula Mühlemann noch nicht gesungen. Sie ist ein „lyrischer“ Sopran; Furien wie die Electra im Idomeneo, die Elvira des Don Giovanni oder die Königin der Nacht in der Zauberflöte wären für sie Klippe bis No go. Aber das „Lyrische“ macht sich in Mozarts Frauenfiguren ohnehin in sehr spezifischer Weise geltend. Auf der neuen CD singt Mühlemann sowohl Susannas „Deh vieni non tardar“ aus dem Schlussakt des Figaro, als auch Paminas suizidales „Ach, ich fühls“ aus der Zauberflöte. Zwei grundverschiedene Frauentypen. Ein Oberschicht-Herzchen als Märchenprinzessin mit einem gefährlichen Zuviel an Empfindsamkeit. Und ein tatkräftig kluges Unterschichtweib, bei dem noch zarteste Gefühle durchströmt sind vom lebensstarken Naturduft der Rosen.

Der Rezensent hört diesen Duft in den vom Kammerchester Basel federnd präzis und in warmen Farben dargebotenen Begleitfiguren der Holzbläser in Susannas „Rosenarie“. In Regula Mühlemanns engelgleich schönem Sopran, ach, hört er ihn nicht. Und ganz und gar nicht will sich der emotionalen Subjektivität des Rezensenten in Mühlemanns Kunst Paminas Wesen auftun. Wie viel schwieriger noch die gar nicht mehr so lyrischen Sopranrollen der Figaro-Gräfin und zugespitzt der Fiordiligi in Cosi van tutte. Und wie ganz verteufelt schwer am Ende im Fall Zerlinas und Despinas die Darstellung des Wesens emotioneller Bodenhaftung und naturhaft intuitiver Handgreiflichkeit unten in der Gesellschaft. Mühlemann wird im Oktober in Wien als Blonde in der Entführung – die vielleicht harmloseste unter den Dienerinnenfiguren Mozarts – den nächsten Schritt gehen.

Man möchte ihr wünschen, dass sie den nicht unerheblichen Gefahren eines Lebens als „Star“ nicht nur gewachsen ist. Sie sollte weiterwachsen an den Aufgaben, die sich ihr stellen. Aber Moment, ist das hier nun am Ende wirklich eine Empfehlung oder was? Es ist eine Erwägung, vielleicht ein Bekenntnis. Das muss reichen. Junge Welt, Oktober 2020

Mozart: Arien – Regula Mühlemann, Baseler Kammerorchester / Umberto Benedetti Michelangeli (Sony Classical)

Musik Reproduktionen

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