So macht man das im Wertewesten. Man setzt einfach mal die Schlagzeile „Beethovens Unvollendete wird vollendet“ in die Welt. Der Rest wird sich finden. Beethovens Unvollendete hat es nie gegeben. Nun kennt jeder Bildungsbürger Schuberts Sinfonie-Fragment in h-moll; es trägt je nach Zählweise die Nummer 7 oder 8 und wurde von Schubert nach Vollendung zweier vollendeter Sätze beiseite gelegt. Sie firmiert weihevoll bis heute als „Unvollendete“.
Aber von einer 10. Sinfonie Beethovens, geschweige von einer „Unvollendeten“, sind nicht einmal Bruchstücke vorhanden. Es gab einen lukrativen Londoner Auftrag für zwei große Sinfonien. Eine Reise Beethovens an die Themse war geplant. Beethoven hatte sich im Herbst 1826 gedanklich auf einigen Blättern seiner vielen, erhaltenen Skizzenbücher flüchtig damit beschäftigt. Die Krankheit, der er im Frühjahr 1827 erlag, durchkreuzte solche Pläne.
Nun bemüht sich im Blickpunkt der freien Weltpresse ein „internationales Team aus Musikwissenschaftlern, Komponisten und Informatikern“ darum, einen „Algorhythmus so zu trainieren, dass er die fehlenden Passagen im Geiste Beethovens nachkomponiert.“ So einfach ist das mit dem Geist Beethovens. Man muss nur den richtigen Algorhythmus mit den richtigen Leuten in Verbindung bringen und schon hat man etwas vollendet, was nie begonnen wurde. Ach ja, einen Geldgeber muss man natürlich auch noch haben. Die Deutsche Telekom war so frei. Was ist lächerlicher, was niveauseitig unterirdischer: Die grenzenlose Überschätzung künstlicher Intelligenz im Verein mit der Verachtung der menschlichen – oder die Kaltschnäuzigkeit, mit der hier die Werbeabteilung des Bürgertums einen ihrer kulturell Größten zum PR-Hampelmann degradiert? Das Beethoven-Jahr kommt näher. Es wird neben Schätzen offenbar jede Menge faule Eier gebären. Junge Welt, Dezember 2019